Sieben Jahre

Roman, 298 Seiten, S. Fischer Verlag, Frankfurt

Ausserdem erschienen in:

Frankreich, Dänemark, Spanien, U.S.A., Italien, Israel, Schweden, Norwegen, Arabische Emirate, Albanien, Tschechien, England, Taiwan

(…)
Ich wandte mich um und sah ein paar Tische weiter im Schatten einer der großen Linden eine lesende Frau. Sie musste ungefähr in unserem Alter sein, aber sie war vollkommen reizlos. Ihr Gesicht war verquollen, ihr Haar aufgelöst und weder kurz noch lang. Vermutlich hatte sie sich vor einiger Zeit eine Dauerwelle machen lassen, aber die Frisur hatte ihre Form verloren und die Haare hingen ihr ins Gesicht. Ihre Kleidung wirkte ältlich und billig. Sie trug einen braunen Rock aus Manchesterstoff, eine gemusterte Bluse in stumpfen Farben und um den Hals ein Foulard. Ihre Nase war gerötet, und vor ihr auf dem Tisch lagen ein paar zerknüllte Papiertaschentücher. Während ich die Frau noch betrachtete, schaute sie von ihrem Buch auf und unsere Blicke trafen sich. Ihr Gesicht verzog sich zu einem gequälten Lächeln und in einer Art Reflex lächelte ich auch. Sie schlug die Augen nieder, aber selbst ihre Schüchternheit wirkte unangemessen und auf unsympathische Art kokett.
Die Herzen der Frauen fliegen ihm zu, sagte Ferdi. Die kriegt er nicht, sagte Rüdiger. Wollen wir wetten? Noch bevor ich antworten konnte, sprach er weiter. Ich wette, die kriegst du nicht rum. In seinen Augen war jetzt ein trauriger Ausdruck. Ich sagte, die nähme ich nicht mal geschenkt. Das wollen wir doch mal sehen, sagte Ferdi und stand auf. Die Frau schaute wieder zu uns herüber. Als sie merkte, dass Ferdi auf sie zukam, nahm ihr Gesicht einen zugleich ängstlichen und erwartungsvollen Ausdruck an. Ist der verrückt, stöhnte ich und wandte mich ab. Die Angelegenheit war mir jetzt schon peinlich. Ich schaute mich nach der Kellnerin um. Du wirst doch jetzt nicht kneifen, sagte Rüdiger, zeig, dass du ein Mann bist. Das bringt doch nichts, sagte ich und streckte die Beine aus. Meine gute Laune war verschwunden, ich fühlte mich nutzlos und schäbig und ärgerte mich über mich selbst. Es war mir, als träten die Stimmen und das Gelächter in den Hintergrund und als höre ich durch den gedämpften Lärm hindurch ganz deutlich das Geräusch von Schritten im Kies, die sich uns näherten.
Das ist Iwona aus Polen, sagte Ferdi. Und das sind Rüdiger und Alexander. Er stand hinter mir, ich musste fast senkrecht zu ihm hoch schauen. Setz dich, sagte Ferdi. Die Frau stellte ihr Glas auf den Tisch und legte die Papiertaschentücher und das Buch daneben, ein Liebesroman mit buntem Umschlag, auf dem vor stürmischem Himmel ein Mann und eine Frau auf einem Pferd zu sehen waren. Sie setzte sich zwischen mich und Rüdiger. Sie saß da, die Hände im Schoss und mit sehr geradem Rücken. Unruhig schaute sie zwischen uns hin und her. Ihre Haltung war verkrampft, dabei hatte ihre ganze Erscheinung etwas Lasches, Kraftloses. Sie sah aus wie jemand, der jede Hoffnung aufgegeben hat, irgendwem zu gefallen, und sei es sich selbst.
(…)

Weitere Leseproben:

Agnes
Blitzeis
Ungefähre Landschaft
In fremden Gärten 
An einem Tag wie diesem
Wir fliegen
Heidi
Sieben Jahre
Seerücken
Nacht ist der Tag
Die Vertreibung aus dem Paradies
Weit über das Land
Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt
Marcia aus Vermont
Wenn es dunkel wird
Das Archiv der Gefühle
In einer dunkelblauen Stunde