Seerücken

Erzählungen, 192 Seiten, S. Fischer Verlag, Frankfurt, 2011

(…)
Hallo, rief ich leise. Niemand meldete sich und ich trat durch eine Schwingtür, über der in altertümlicher Schrift »Speisesaal« stand. Ich kam in einen großen Raum mit vielleicht dreißig Holztischen und umgedrehten Stühlen darauf. In der hintersten Ecke des Saals war ein Tisch im Licht. Dort saß eine junge Frau. Hallo, rief ich etwas lauter als vorher und ging durch den Raum auf sie zu. Noch bevor ich sie erreicht hatte, stand sie auf, kam mir mit ausgestreckter Hand entgegen und sagte, willkommen, ich bin Ana, wir haben telefoniert.
Sie musste ungefähr in meinem Alter sein. Sie trug einen schwarzen Rock und eine weiße Bluse wie eine Kellnerin. Sie hatte schwarz glänzendes, schulterlanges Haar. Ich fragte, ob das Hotel geschlossen sei. Jetzt nicht mehr, sagte sie und lächelte. Auf dem Tisch stand ein halbvoller Teller mit Ravioli. Einen Moment bitte, sagte die Frau. Sie setzte sich wieder hin und aß auf. Sie schlang das Essen hinunter, es schien sie nicht zu stören, dass ich ihr dabei zuschaute. Ich hatte seit dem Mittag nichts gegessen und bekam langsam Hunger, aber ich wollte erst mein Zimmer beziehen, duschen und mich umziehen. Ich setzte mich der Frau gegenüber, sie lud mich mit einer verspäteten Handbewegung dazu ein und sagte, erzählen Sie mir von ihrer Arbeit. Ich erklärte ihr noch einmal, weshalb ich hier sei. Sie wischte sich den Mund mit der Serviette ab und fragte, weshalb interessiert Sie das? Ich zuckte mit den Schultern und sagte, ich sei zu der Tagung eingeladen worden. Gender Studies seien im Moment in Mode. Und warum immer die Frauen?, fragte sie. Ich weiß nicht, sagte ich, Männer sind weniger interessant. Mit einem Schluck Wein spülte sie den letzten Bissen hinunter. Ich zeige Ihnen jetzt das Zimmer.
(…)

Aus: «Sommergäste»

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