Eine Rede zum Nationalfeiertag

Im Bett mit Helvetia

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, liebe…

Liebe überhaupt…lieben sie, beispielsweise, lieben sie ihr Vaterland, ihr Mutterland, die Schweiz beispielsweise? Lieben sie sie? Lieben sie die Berge? Die Gotthardgruppe und die Adula sowie die nördliche Zone mit den Berner Alpen, den Glarner Alpen den Thur-Alpen und der Finsteraarhorngruppe? Oder lieben sie die ständig bewohnten fünfzig Prozent des Landes, die grosse Bevölkerungsdichte sowie die industrialisierten Juratäler? Lieben sie das Bildungswesen, das im Bereich der allgemeinbildenden Schulen der kantonalen Gesetzgebung unterliegt, oder lieben sie die rationell zu bearbeitenden Niederstammobstkulturen der Ostschweiz? Lieben sie die fünf Kernkraftwerke (Beznau I und II, Gösgen, Leibstadt und Mühleberg), oder lieben sie die exportorientierte Maschinenindustrie, die Uhrenindustrie mit ihrem Zentrum in La Chaux-de-Fonds oder die Konservenindustrie, die ferner zu nennen ist? Lieben sie Jean Ziegler, Wilhelm Tell oder die Fussball-Nationalmannschaft? Lieben sie den Hund ihres Nachbarn, lieben sie ihren Nächsten wie sich selbst? Lieben sie Helvetia? Sind sie Mitglied der freiwilligen Feuerwehr?

Die erste Schweizerische Einheitsmünze von 1850 zeigte Helvetia sitzend und mit ausgestrecktem Arm. Der Bundesrat meinte zum Entwurf von Antoine Bovy, dass es «dem erforderlichen Anstande besser entsprechen würde, wenn die Brust und die untern Körpertheile nicht so sehr ausgeprägt wären.»

Lieben sie die Brust und die untern Körperteile von Helvetia? Lieben sie ihre Brust, ihre nährende Mutterbrust, an die sie, verlassenes Schweizerkind, ihr von der Arbeit müdes Köpfchen lehnen können? Lieben sie die Mutter Helvetia, die grosse Mutter, die Erd-, die Urmutter? Sind sie, sind wir Helvetiens Kinder? Und wer ist der Vater? Diviko, Orgetorix, Wilhelm Tell oder Gessler der Unhold? Aber sangen nicht die alten Eidgenossen «Helvetia, du Jungfrau hold»? Ist Helvetia eine jungfräuliche Mutter, ist sie selbstbefruchtend? Sind ihre Kinder das Produkt einer Parthenogenese, einer Jungfernzeugung? Wie bei den Ameisen, den Blattläusen, den Bienen? Helvetia eine Bienenkönigin?

Rudolf Minger sagte es:»Einem Bienenvolk sind wir vergleichbar: friedlich in unserer Gesinnung, fleissig in der Arbeit, aber voller giftiger Stiche, wenn man uns reizt. Auch die Königin haben wir. Sie heisst Helvetia.» Rudolf Mingers Bienenkönigin Helvetia hat eine «gepanzerte Faust» in Form der Armee, mit der sie vernichtende Schläge an Zu- und Eindringlinge austeilt. Helvetia eine Domina?

Die obengenannten, alten Eidgenossen rieten ihrer Landesmutter singend, sich um den «keuschen Leib» einen «Gürtel von Gletschereis» zu schlingen. Das alte Lied: Schweizer Männer wollen keusche Frauen, tun sich überhaupt schwer mit Frauen. Schon vor zweitausend Jahren schrieb Diodor von Sizilien über die Bewohner der von Donau, Rhein und Rhone durchströmten Länder, obwohl deren Weiber «ganz wohlgestaltet» seien, «halten sie sich doch sehr wenig zu diesen, sondern werden, wie durch unsinnige Raserei, zur Umarmung des männlichen Geschlechts getrieben.» Und noch vor hundert Jahren stellte sich Gottfried Keller seine wahre, gute Helvetia «dargestellt durch einen hochgewachsenen schönen Jüngling im Purpurgewand, mit mächtig wehendem Walkürenhaar» vor. Helvetia als Transvestit? Da wundert es nicht, dass Wilhelm Tell in Johann Jacob Bodmers gleichnamigem Theaterstück auf die Frage Gesslers, ob er verheiratet sei, betont:»Ja, lieber Herr, mit einem Weibsbilde». Und nicht (in Klammer) mit einem schönen Jüngling.

Aber wenn’s denn schon kein Walküren-Jüngling sein darf: was für ein Weibsbild soll es sein? Auf Fritz Ulysse Landrys Vorschlag für die 20 Fr-Münze wünschte sich die Kommission 1895, dass «die Jungfrau auf dem Avers durch eine Mutter ersetzt wird, die das Vaterland so symbolisiert, wie unser Volk es versteht.» Wie versteht unser Volk, wie verstehen sie das Vaterland? Als Mutter? Man sehe nicht ein, sagte die Kommission weiter, was die Motive sein könnten «dieses superbe Porträt einer jungen Frau» auf die nationalen Geldstücke zu prägen. Landry rechtfertigte sich damit, er habe an die Jungfrau (den Berg mit Gletschereis-Gürtel) erinnern und die Freiheit darstellen wollen, die immer jung sei. Trotzdem machte er das Gesicht ernster und reifer, flocht das Haar in einen Zopf und ersetzte die Krone aus Rhododendron durch eine aus Edelweiss. Der Volksmund versteckte die schöne Helvetia hinter dem Namen Goldvreneli. Hätten sie’s gewusst?

Lieben sie das Goldvreneli? Das Gold oder das Vreneli? Sie sehe aus wie «ein junges Mädchen, aus einem religiösen Pensionat» (das war schon damals negativ gemeint). Die Revue suisse de numismatique schrieb gar, zwar sei das Vaterland ewig und deshalb immer jung, aber das sei eben nur eine Redewendung. (Das hübsche, junge Gesicht auf dem Fünfer, dem Zehner, dem Zwanziger zeigt nicht Helvetia, wie viele glauben, sondern die Libertas, die römische Göttin der politischen Freiheit.) Helvetia sei eine Familienmutter und kein junges Mädchen, und ausserdem zeige der Gesichtsausdruck der Münzjungfer gleichzeitig Melancholie, Mystizismus, Bewunderung und sehr viel Erwartung. «Erwartung von was oder wem?» fragen die Numismatiker. Eben. Was hat eine alte Jungfer zu erwarten? Das Himmelreich? Die Verwesung?

Was haben sie zu erwarten, liebe Mitbürgerin, lieber Mitbürger, liebe…? Liebe? In ihrem Alter? Und was hat die älteste Demokratie der Welt noch zu erwarten? Die Verwesung (veraltet für Verwaltung)? Oder einen zweiten Frühling? Gott bewahre! Unsere Liebe kann die Heimat erwarten, und die ist beileibe kein Frühling, nicht einmal ein zweiter. Lieben sie ihre Heimat? Sind sie an’s Kabelfernsehen angeschlossen? Kennen sie das «Glücksrad»? Kennen sie den Preis des Glücks? Lieben sie ihre Heimat? Wie zeigen sie der Heimat ihre Liebe?

Wie lange haben sie sich beim letzten Betriebsausflug auf die Rigi das Panorama angeschaut? Wieviele Gläser Weisswein haben sie getrunken? Kennen sie die ersten zwei Strophen der Nationalhymmne auswenig? Ist die Fahne, die in ihrem Garten hängt wetterbeständig? Deklarieren sie in der Steuererklärung ihr gesamtes Vermögen? Ist es ihnen auf ausländischen Flughäfen peinlich, ihren roten Pass aus der Tasche zu ziehen? Klebt auf ihrem Autoheck ein Tessinerwäppchen, ein Jesus-Fischchen oder ein bumsendes Hasenpärchen? Glauben sie, dass das Reduit uns vor dem Weltuntergang bewahren kann? Der liebe Gott? Die Marktwirtschaft? Haben sie für die Alpeninitiative gestimmt? Weshalb?

Auf Ferdinand Hodlers Vorschlag für die 50-Franken-Banknote waren zwei Helvetias zu sehen. Für die eine hatte seine Frau, für die andere seine Geliebte, Valentine Godé-Darel, Modell gestanden. Nicht nur die französische Herkunft der Geliebten, auch die ungewohnt frauliche Darstellung der beiden Helvetias – natürlich wie immer im Nachthemd – war schuld daran, dass die Banknote nie gedruckt wurde. Die Helvetia ist keine Geliebte, schon gar keine französische.

Marianne dagegen ist eine französische Geliebte, die «nationale Personifikation der französischen Republik». Für ihre Büste, die in jeder französischen Mairie zu sehen ist, stand Brigitte Bardot einst Modell und später Catherine Deneuve. «Et Dieu créa la Marianne». Das ist eben Frankreich. Und hier ist eben die Schweiz. Und das ist eben Marianne, und dies ist eben Helvetia. Und jene ist eben schön und jung und temperamentvoll, und diese ist eben alt und dick und unberührbar.

Dabei ist die Heimat berührbar. Man kann, man darf sie anfassen. Haben sie sie schon einmal angefasst, die Heimat? Haben sie schon einmal auf ihr gelegen? Haben sie nachts auf dem Waldboden geschlafen, im Sommer auf einer Wiese, haben sie ihr Bett in einem Kornfeld aufgeschlagen («denn es ist Sommer und was ist schon dabei / die Grillen singen, und es duftet nach Heu…»)? Wann sind sie zum letztenmal barfuss über eine Wiese gegangen? Wissen sie wie Gletscherwasser schmeckt? Haben sie schon einmal mit ihrer Heimat geschlafen? Zugegeben, sie ist nicht die allerschönste, wenn man sie von ihrem Podest runterholt. Sie hat ihre Schönheitsfehler, ihre Tücken, wenn man mal die Erhabenheit beiseite lässt und sie sich genau ansieht. Aber nachts ist es dunkel, und wenn die Hormone tanzen… Haben sie schon einmal mit Helvetia geschlafen? Nicht zehn Minuten wie mit einer Hure, sondern eine ganze Nacht? Lieben sie ihre Heimat? Würden sie Helvetia um ihre Hand anhalten, um ihre Brust, um ihre unteren Körperteile?

Die Heimat, die Natur körperlich lieben? Wir wären nicht die ersten. Auf der indonesischen Insel Ambon gab es den Brauch, dass die Männer nachts nackt in die Plantagen gingen und sich dort «bemühten, die Bäume in derselben Weise zu befruchten, wie sie es bei Frauen machen würden.» Und wenn sich sowohl in der Ukraine als auch in Deutschland in alten Bräuchen Liebespaare über die Felder rollten oder in einigen Gegenden Russlands der Priester von den Frauen des Dorfes über die Äcker gerollt wurde (nota bene zur Erhöhung der Fruchtbarkeit), so war das nach dem britischen Ethnologen J. G. Frazer nur «eine Abschwächung eines älteren und primitiveren Brauches». Können sie sich den primitiveren Brauch vorstellen? La petite mort (wie’s die Franzosen nennen) mit der Heimat, statt dem grossen Tod, dem Heldentod, für’s Vaterland. Das ist wahre Liebe! Lieben sie ihre Heimat?

Und denken sie, dass unsere Politiker ihre Heimat lieben? Können sie sich Herrn Blocher barfuss vorstellen? Herrn Frey von Frauen über Felder gerollt? Herrn Dreher einen Baum begattend (wie er es bei Frauen machen würde)? Versuchen sie, es sich vorzustellen – sie werden lachen! Sind unsere Politiker die Geliebten unserer Heimat? Oder sind sie ihre Zuhälter? Sind unsere Politiker unsere Politiker? Würden sie tun was sie tun, wenn sie unsere Politiker wären? Wenn sie uns liebten? Wenn sie die Schweiz liebten? Verletzt, beschmutzt, zerstört man, was man liebt? Und die ganze Nationalisten-Brut? Liebt sie die Schweiz, gerade sie? Will man überhaupt lieben, wenn man selbst alles tut, um nicht geliebt zu werden? Kann man lieben, wenn man sich vor lauter Angst vor dem Leben in die Kämpferhosen kackt?

Angst überhaupt. Das Gefühl, drohenden Unheils, chronische Ängstlichkeit. Angst vor den Frauen, vor dem Weiblichen, vor der Natur. Warum wird jedes Flecklein Erde in der Schweiz in Bortsteine aus Granit gerahmt? Warum wird jedes Kraut, das am falschen Ort wächst, mit Unkrautvertilger ausgerottet? Warum wird unseren öffentlichen Wiesen, warum unseren privaten Rasen zweiwöchentlich ein Borstenschnitt verpasst? Warum gibt es Wettbewerbe für die schönsten Begonien-Kistchen? Aus Angst vor dem Unkontrollierten, Wuchernden? Aus Angst vor der unberechenbaren Fruchtbarkeit? Warum lassen wir unsere Kinder hors-sol aufwachsen? Warum spielt nur noch die Armee im Wald? Warum messen wir jede Bewegung, die wir um ihrer selbst Willen machen in Hundertstelssekunden? Warum wollen wir dieses Jahr schneller sein als letztes Jahr? Warum gleichen unsere Leben immer mehr einem Vita-Parcours? Warum trotzen wir wie Kinder gegen die Mutter, statt uns mit der Geliebten in’s Gras zu legen? Die Mutter Helvetia gehört endgültig ins Altersheim. Sie muss der Geliebten Helvetia Platz machen. Lieben sie ihre Heimat!

Aber glauben sie, dass Helvetia sie liebt? Glauben sie, dass Helvetia auf ihr Inserat antworten würde? «Gut situierter, solider Herr sucht behäbige, mütterliche Jungfrau ohne ausgeprägte Brust und untere Körperteile. Keine unseriösen Angebote.» Glauben sie, es würde Helvetia gefallen, mit ihnen zu leben? So wie sie sich das eingerichtet haben mit dem Leben? Gefällt es denn ihnen? Ein bisschen anstrengen müssten sie sich schon. Aber wer weiss, vielleicht verliebt Helvetia sich wirklich in sie, so schlecht passen sie zwei ja gar nicht zusammen. Und vielleicht kommt sie mit ihnen, nicht um ihre Briefmarkensammlung anzuschauen und nicht auf eine Spritztour mit ihrem 4WD. Vielleicht legt sie dann ihren Keuschheitsgürtel aus Gletschereis ab und lässt ihr Nachthemd fallen, vielleicht küsst sie sie auf den Mund, vielleicht… Und wenn sie dann nach einer langen Liebesnacht müde nebeneinander liegen, wer weiss, vielleicht planen sie dann sogar eine gemeinsamen Zukunft.

 

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