Winterthur, 2006

August-Rede

Vorbemerkung

Ich werde meine Rede auf hochdeutsch halten und bitte sie, dies zu verzeihen. Wenn ich schreibe, denke ich hochdeutsch, und meine Rede ins Schweizerdeutsche zu übersetzen wäre mir künstlich erschienen. Immerhin – und das dürfen wir nie vergessen – ist das Hochdeutsche nicht nur die Sprache unseres grossen Nachbarn sondern genausosehr unsere Sprache. Letzte Woche hörte ich im Radio, dass achthunderttausend Schweizer Mühe haben, einen längeren Text zu verstehen. Ich glaube, wir täten gut daran, nicht nur unsere Mundart sondern auch unsere Schriftsprache zu pflegen.


Liebe Anwesende

Ich könnte – und vielleicht sollte ich – Sie als Mitbürgerinnen und Mitbürger begrüssen, aber ich weiss, dass heute auch Nichtbürger hier sind, besser gesagt Bürger anderer Staaten, zum Beispiel mein Sohn Fabio. Auch er hat kürzlich – wie heute die Schweiz – einen Geburtstag gefeiert, nämlich seinen ersten. Wir hatten eine kleine Feier organisiert, die Paten kamen und die Grosseltern, Geschenke wurden ausgepackt, Kuchen gegessen. Die Kerze mochte Fabio nicht ausblasen, er bestaunte sie nur, bis der Wind sie für ihn ausbliess. Fabio schien Freude zu haben am Fest und vor allem am Kuchen, aber er begriff natürlich nicht, dass es seine Feier war. Wenn ich ehrlich bin feierten wir nicht für ihn sondern für uns.

Ich habe den Verdacht, dass wir auch heute nicht für das Geburtstagskind feiern sondern für uns selbst, die Gäste. Denn wer ist dieses Geburtstagskind, was ist die Schweiz? Nationen sind diffuse Gebilde. Geographen mögen dem wiedersprechen, sie können auf den Meter genau sagen, wo die Schweiz beginnt und wo sie aufhört. Aber was ist, wenn am Gotthard oder am Eiger ein Fels abbricht? Ist die Schweiz dann kleiner geworden? Auch Grenzen sind willkürliche Gebilde. Ob einer Schweizer ist oder Italiener, Franzose oder Deutscher, verdankt er oft nur politischen Kuhhandeln. Die Elsässer und die Südtiroler können ein Lied davon singen, dass sich mit der Staatsangehörigkeit nur die Probleme ändern, nicht die Identität der Menschen.

Ein Land ist mehr als ein geographisches Gebiet, es hat nicht nur eine räumliche sondern auch eine zeitliche Ausdehnung. Diese ist im Falle der Schweiz – wir wissen es – noch weniger klar. Die Berge waren schon immer da, Menschen haben schon lange hier gelebt, irgendwann – als die Bauern gerade nicht aufpassten – wurden Grenzen um sie herum gezogen, die über Jahrhunderte immer weiter wurden. Die Schweiz wurde besetzt und kam wieder frei. Ein Bundesstaat wurde gegründet. Welches Geburtsjahr die Schweiz hat, ist schwer zu sagen. Und dass der Geburtstag unseres Landes der 1. August ist, wissen wir auch erst seit 117 Jahren.

Als ich während der Fussballweltmeisterschaft Schweizerfahnen mit dem Logo der Brauerei Calanda sah, die – wie wir alle wissen Haldengut, bzw. Heineken gehört – war ich ehrlich gesagt etwas empört. Die Schweiz mag schwer zu definieren sein. Eine Biermarke ist sie ganz bestimmt nicht.

Man könnte sagen, die Schweiz, das sind die Schweizerinen und Schweizer, die Bewohner des Landes. Aber gehören die Auslandschweizer dazu, die das Land vielleicht noch nie gesehen haben? Und die Ausländer, von denen manche hier geboren wurden und aufgewachsen sind? Auch die Bevölkerung eines Landes ist nicht genau zu bestimmen und ändert sich dauernd. Wenn das Telefon des Bundesamtes für Migration nicht dauernd besetzt wäre, wäre mein Sohn Fabio schon längst ein Schweizer. Aber würde das etwas ändern?

Wenn ich an schulfreien Sommernachmittagen durch das menschenleere Dorf meiner Kindheit streunte, wenn ich später in Bars und Diskotheken nach Gesellschaft Ausschau hielt, fragte ich mich immer, wo all die Menschen waren, die angeblich in diesem Land lebten, arbeiteten und noch mehr Menschen zeugten. Meine Mitschweizer und Mitschweizerinnen sassen, stellte ich mir dann vor, über das Land verstreut in ihren Häusern, arbeiteten in ihren Gärten, schauten – wie heute Abend – den Tatort und hatten so wenig Ahnung von mir wie ich von ihnen.
Als ich mich an meinem letzten Schultag von meinen Schulkolleginnen und –kollegen verabschiedete, kam es mir vor, als explodiere meine Welt, als falle alles auseinander und lasse sich nie wieder zusammenfügen. Natürlich fand ich später neue Freunde, aber es blieb eine frühe Wunde, das Wissen, dass Gemeinschaft nichts Selbstverständliches ist, dass Menschen zu beweglich sind, um feste Einheiten zu bilden.

Im Allgemeinen fällt die Schweiz zu den Grenzen hin ab, und so drängt alles, was der Schwerkraft unterliegt, weg aus diesem Land. Zwar entspringen die wichtigsten Ströme Europas in der Schweiz, aber sie haben kein anderes Ziel, als unser Land so schnell wie möglich zu verlassen. Die Physik ist gegen uns. Wir müssen uns aneinanderklammern, um uns nicht zu verlieren. Was uns zusammenhält ist einzig der Wille, sind die gemeinsamen Interessen. Die Einheit besteht nur in den Köpfen. Und auch da besteht sie nicht immer.

Die Schweiz war den Nationen um sie herum schon seit langer Zeit als Pufferzone willkommen. So musste sie weniger um ihre Existenz kämpfen als um ihre Identität. Sie ist ein Land ohne Eigenschaften, und wir tun alles, um das zu verbergen. Viele mögen sich noch an den Aufschrei erinnern, der 1992 durch das Land ging. Der Künstler Ben hatte an der Weltausstellung in Sevilla ein Schild aufgehängt, auf dem ein einziger kurzer Satz zu lesen war: «La Suisse n’existe pas». Die Schweiz existiert nicht. Kaum ein Kunstwerk hat in unserem Land so viele Diskussionen, so viel Empörung ausgelöst wie dieses. Hätte ein französischer Künstler dasselbe über sein Land behauptet, die Franzosen hätten nicht mit der Wimper gezuckt.
Das Schockierende an Bens Behauptung ist, dass sie stimmt, und dass wir alle es insgeheim wissen. Zwar gibt es einen Nationalstaat, der den Namen «Schweiz» trägt. Dieser Staat stellt uns Pässe aus, die uns zu Schweizern und Schweizerinnen machen, er druckt Banknoten, mit denen wir bezahlen und uns bezahlen lassen, er hat eine Regierung, eine Armee und einen Nationalfeiertag. Aber dieser Staat ist ein zusammengesetztes Gebilde, eine zusammengewürfelte Gemeinschaft von Menschen, die irgendwann hierher gekommen und nicht mehr weggegangen sind. Die Schweiz ist ein Durchgangsland. Sie war es schon immer.

Vielleicht ist unser Heimatgefühl deshalb eher lokal als national. Als Schweizer fühlen wir uns im Ausland, vielleicht am Abstimmungssonntag oder im Militärdienst. Im Alltag aber sind wir Basler oder Zürcher, Winterthurer oder Weinfelder. Die meisten Mitglieder meiner Familie haben irgendwann in ihrem Leben im Ausland gearbeitet. Heute leben wieder alle in der Bodenseeregion, im Umkreis von sechzig Kilometern.
Auch ich bin nach vielen Jahren wieder ganz nah an meinen Geburtsort zurückgekommen. Und ich werde – wenn ich noch so lange in Winterthur lebe – immer ein Thurgauer bleiben und hier in Winterthur ein wenig fremd sein. Wann mein Kanton Geburtstag hat, weiss ich ich nicht, vom Thurgauerlied kenne ich noch weniger Worte als vom Schweizerpsalm und die Geschichte des Kantons interessiert mich kaum. Aber ich kenne die Vegetation, die Landschaft, das Wetter. Ich kenne die Menschen, spreche ihre Sprache. Wenn ich im Ausland bin, kann ich mich an meine Region erinnern. Ich habe eine Vorstellung von ihr. Von der Schweiz habe ich keine Vorstellung.

Als ich geboren wurde, war der Bodensee zugefroren, und man konnte zu Fuss nach Deutschland hinübergehen. Das Krankenhaus stand direkt am Ufer des Sees. Das erste was mir von meinem Land gezeigt wurde, war der gefrorene See, die Grenze, die plötzlich keine mehr war. Ströme von Menschen sollen den See damals überquert haben, Spaziergänger, Schlittschuhläufer, Reiter, sogar Autos. Aber selbst wenn der See nicht zugefroren war, war Süddeutschland für uns viel näher als die West- oder die Südschweiz. Die nächste grössere Stadt war Konstanz. Dort kauften wir ein, gingen ins Kino und ins Theater. Zwar sahen die Briefkästen und die Polizeiautos anders aus als bei uns, aber kulturell waren und sind wir eine Region. Die Landschaften dies- und jenseits des Sees sind kaum zu unterscheiden, und auch die Dialekte sind sich ähnlich. Verschieden sind nur unsere Pässe, die die einen zu Deutschen, die anderen zu Schweizern machen.

Wir müssen uns so sehr um das Bild der Schweiz bemühen, weil wir dauernd in Gefahr sind, mit anderen verwechselt zu werden, mit Italienern, Deutschen, Österreichern oder Franzosen. Weder das Schweizer Volk noch die schweizerische Landschaft bilden eine Einheit, also muss ein Mythos geschaffen werden, um das Land zusammenzuhalten. Es ist der Mythos eines bodenständigen Volks, das wehrhaft aber neutral, fleissig aber bescheiden die steilen Abhänge der Alpen bewohnt und bewirtet, Käse macht und Schokolade und teure Uhren baut. Statt auf Rousseau und Pestalozzi, auf Le Corbusier und Godard sind wir stolz auf Heidi und Wilhelm Tell, zwei Bauernkinder, die beide nie gelebt haben. Statt uns als die moderne und weltoffene Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft zu sehen, die wir sind, pflegen wir noch immer das Bild von der bäurischen Hochgebirgsdemokratie. Dabei sind die Alpen, unser Markenzeichen, nur spärlich bevölkert und ausser zum Skifahren und zum Wandern kaum zu gebrauchen.
Der grösste Teil der Schweizer Bevölkerung lebt im Flachland, in Städten und Ballungsgebieten. Ich kenne kein moderneres Land als die Schweiz. Mehr als siebzig Prozent der Erwerbstätigen verdienen ihr Geld im Dienstleistungssektor. In der Landwirtschaft arbeiten gerade noch vier Prozent. Die Zahl der Bauern entspricht ungefähr jener der Arbeitslosen.

Ich habe oft von aussen auf meine Heimat geblickt. Als ich im Ausland lebte, dachte ich manchmal wehmütig an zu Hause. Aber ich vermisste nicht die Neutralität oder die Uhrenindustrie, nicht die Schweizerfahne oder die Nationalbank. Mein Heimweh galt den Menschen, die mir nah sind, meiner Familie, meinen Freunde und Nachbarn. Ich vermisste ihre pragmatische Art, ihre Bescheidenheit, ihre Zuverlässigkeit, den unkomplizierten Umgang. Ich vermisste die Sprache und nicht zu letzt die wunderschönen ostschweizer Landschaften.

Ich habe vor zwölf Jahren eine 1. August Rede für den Nebelspalter geschrieben. Der Titel war «Im Bett mit Helvetia» und wurde – nebenbei gesagt – vom Winterthurer Peter Gut wunderschön illustriert. Damals wünschte ich mir, dass wir Helvetia nicht wie eine Mutter sondern wie eine Geliebte behandeln. Dass wir sie mit Leidenschaft lieben, dass wir sie berühren und von ihr berührt werden. Aber wir sind weder die Kinder unseres Landes noch seine Geliebten. Wir sind seine Eltern, die jedes Jahr den ersten Geburtstag ihres Kindes feiern. Um uns daran zu erinnern: Wir sind verantwortlich für die Schweiz. Wir müssen auf sie aufpassen. Wir müssen uns um sie kümmern. Ohne uns kann sie keinen Tag existieren. Die Schweiz ist das, was wir aus ihr machen. Der 1. August sollte weniger die Feier der Vergangenheit sein als das Fest der Zukunft.

Ich weiss noch, wie ich vor vielleicht zehn Jahren die Winterthurer Nationalfeier besuchte. An die Rede erinnere ich mich nicht mehr, aber ich weiss noch, dass ich unsicher war, ob ich bei der Nationalhymne aufstehen sollte oder nicht. Der Text der Hymne ist mir fremd, eigentlich ist sie eher ein Kirchenlied als eine Nationalhymne, und die Melodie ist auch nicht gerade mitreissend.
Schliesslich – mit etwas Verspätung – stand ich doch auf. Denn auch die 1. August Feier ist das, was wir aus ihr machen. Sie gehört nicht den Konservativen, und schon gar nicht den Neonazis, die wohl auch heute wieder auf dem Rütli aufmarschieren. Ich stand damals nicht auf für Gott oder für das Morgenrot oder für das hehre Vaterland, nicht für siebenhundert oder hundertfünfzig Jahre Geschichte. Ich stand auf für meine moderne und weltoffene Schweiz, für mein Land, für das ich mich verantwortlich fühle wie für meine Kinder.

Vielen Dank

 

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