Was wir können

(nach einer Kurzgeschichte aus «Blitzeis»)

WDR, 2001

(…)
9. Wohnzimmer Evelyns
Evelyn: Ich bekomme diese Briefe. Von einem Mann. Er scheint mich zu kennen. Er schreibt mir seit Monaten Briefe. Immer das selbe. Ich habe sie versteckt.
Walter: Ein heimlicher Verehrer.
Evelyn: Das ist nicht … ich habe … Er scheint mich zu kennen. Ich weiss nicht. Vielleicht beobachtet er mich. Er nennt sich Bruno Schmid.
Walter: Schmid … ich kannte mal einen Schmid. Ist mit mir zur Schule gegangen. Der war ganz nett.
Evelyn: Hiess er Bruno?
Walter: Ich glaube nicht. Nein. Warte mal … der hiess … Christian, glaube ich. Ja, Christian. Der war ganz nett.
Evelyn: Ich denke immer … vielleicht schaut er nachts in mein Fenster rein.
Walter: Wenn du die Vorhänge gezogen hast …
Evelyn: Aber … oder er verfolgt mich, wenn ich aus dem Haus gehe. Vielleicht ist er verrückt.
Walter: Dann würde er nicht schreiben. Was schreibt er denn?
Evelyn: Ich habe sie versteckt. Warte … hier.
Walter: Liebes Fräulein Evelyn. Fräulein, der ist auch nicht gerade … steht dein Vorname am Briefkasten?
Evelyn: Familie. Ich habe Familie geschrieben. Damit … es muss ja niemand wissen, dass ich allein hier wohne. Sonst …
Walter: Na, bei Bruno Schmid hat es offenbar nichts geholfen. Im Telefonbuch?
Evelyn: Ja.
Walter: Es gibt Typen, die schreiben sich Namen aus dem Telefonbuch ab. Einfach so. Kriegst du nie anrufe?
Evelyn: Von …? Nein. Einmal. Eine Zeit lang. Aber das ist lange her. Und dann hat er plötzlich aufgehört.
Walter: So …?
Evelyn: Ja.
Walter: Und du hast nichts gemacht?
Evelyn: Was kann man machen?
Walter: Einfach nicht ernst nehmen.
Evelyn: Ich weiss. Aber … und dann hat es plötzlich aufgehört.
Walter: Na. (liest) Liebes Fräulein Evelyn. Sie gefallen mir, ich empfinde Ihre Nähe als angenehm. Sind wir in Gefahr zu wollen, was wir nicht wissen? Es soll nicht zur Sünde und nicht zum Tod führen. Wegen der Gefahren brauchen Kinder Eltern. Den Mahnungen entkomme ich zeit meines Lebens nicht. Mein Glaube nimmt einen Teil meiner Zeit und auch meines Geldes in Anspruch. Aber es bleibt viel, das ich teilen möchte. Ich ahne, dass Sie eine Hoffnung in jemanden haben, und würde davon ganz gern erfahren. Ich weiss noch nicht, was mir davon möglich sein wird. Viele Grüsse…
Evelyn: Er schreibt immer dasselbe. Bitte …
Walter: Der ist irgendwie fromm. Die sind nicht gefährlich.
Evelyn: Meinst du?
Walter: Ein armer Irrer.
Evelyn: Was meint er damit, es soll nicht zum Tod führen?
Walter: Ach … das Leben führt immer zum Tod. Ich glaube nicht, dass der gefährlich ist.
Evelyn: Manchmal möchte ich, dass ich schon alt wäre. Dann wäre das alles vorbei. Diese Unruhe.
Walter: Hast du Angst vor ihm?
Evelyn: Die Welt ist voll von Verrückten.
Walter: Woher hast du all die Puppen?
Evelyn: Von überall. Ich sammle Puppen in Nationaltrachten. Ich habe schon dreissig verschiedene, von überall. Willst du sehen?
Walter: Ach …
Evelyn: Die meisten habe ich von meinen Eltern. Sie reisen viel. Die da ist von Lappland. Und die kleine aus Spanien.
Walter: Und du?
Evelyn: Ich würde auch gerne. Aber … ich weiss nicht. Allein reisen … ich hätte Angst. Ich habe mal eine Gruppenreise gemacht. Wandern in der Toskana. Aber da waren alle mindestens doppelt so alt wie ich. Ich weiss nicht.
(…) 

 

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