In einer dunkelblauen Stunde

Roman, 256 Seiten, S. Fischer Verlag, Frankfurt, 2023

(…)

Wir sind spazieren gegangen auf dem Berg, obwohl es schon dunkel war. Wir gehen die Straße hoch, die an der Kirche vorbeiführt, kommen an ein paar Einfamilienhäusern vorbei, Villen, an einem Obstgarten. Ein Bauernhof noch, dann haben wir das Dorf schon hinter uns und gehen zwischen Wiesen, Feldern und Wald. Hier gibt es keine Straßenbeleuchtung mehr, aber im Licht des Mondes sehen wir genug. Erst jetzt fängt Judith an zu erzählen, sie erzählt nicht, sie spricht zu sich selbst, als beschreibe sie nur ihre Erinnerungen. Manches verstehe ich nicht, so leise spricht sie, aber ich frage nicht nach, aus Angst, es könnte sie zum Verstummen bringen. Ich lasse sie reden.

Es ist eine vertrackte Geschichte, kein Autor würde sich trauen, so etwas zu erfinden. Plötzlich sehe ich in allen Büchern von Wechsler Elemente davon, Bruchstücke, Variationen. Das große Gefühl, auf das ich ein wenig eifersüchtig bin.

Judith bleibt stehen. Wir sind schon weit oben auf dem Berg, schauen hinunter auf die Lichter des Dorfes. In jedem Haus spielt eine Geschichte, hinter jedem beleuchteten Fenster. Und hinter den dunklen Fenstern wachsen Träume, noch mehr Geschichten. Es ist Frühling, mondlose Nacht in der kleinen Stadt, sternlos und bibelschwarz …

Du bist seine Muse, sage ich.

Sie lacht. Will ich das sein? Möchtest du eine Muse sein? Aber das kann man sich wohl nicht aussuchen.

Bereust du, was ihr getan habt?

Keinen Moment.

Für eine Pfarrerin ist sie ziemlich cool.

Du bist sein Opfer. Das habe ich nicht gesagt. Aber ich habe mich gefragt, wer mehr leidet, das Opfer oder der, der es bringt. Ich rede jetzt nicht von einem geschlachteten Huhn.

Judith lacht. Sie kommt mir vor wie eine junge, übermütige Frau, dabei muss sie fast sechzig sein. Heißt es nicht, reformierter Pfarrer sei der gesündeste Beruf? Oder der ungesündeste? Eins von beiden.

Es ist nur eine Möglichkeit, sagt sie.

Was meint sie damit? Und: Alles hat sie mir nicht erzählt. Man kann nie alles erzählen. Die Stunden und die Tage, die sie miteinander verbracht haben, die Erregung, die Liebkosungen, der Sex. Die Begegnungen und die Abschiede, die Freude und die Verzweiflung. Eine Möglichkeit? Eine Version der Geschichte? Und was wäre Wechslers Version? Was wäre meine Version? Unser Film soll die Wahrheit zeigen, aber langsam fange ich an zu zweifeln, dass es diese Wahrheit überhaupt gibt. Und selbst das Wenige, das ich jetzt von der Wahrheit weiß, kann ich nicht zeigen. Das sind die Geschichten, die man sich in der Dunkelheit erzählt, wenn man nur zu zweit ist oder allein. Im Licht lösen sie sich auf.

Ich stelle mir vor, wie sie ihn besucht in seinem Haus in einem Vorort von Paris. Sie hat gesagt, er müsse sie nicht abholen, es ist nicht das erste Mal, dass sie zu ihm fährt. Er hätte es gerne getan, aber sie will nicht, sie weiß, was sie will. Sie will an seiner Tür klingeln, will, dass er ihr aufmacht, als sei sie die Nachbarin, die auf einen Schwatz vorbeikommt oder der Postbote mit einem Paket. Sie schauen sich in die Augen, sie macht einen Schritt auf ihn zu. Die erste halbe Stunde sprechen sie kein Wort, küssen und umarmen sich nur, ziehen sich aus.

(…)

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