Nachtkampf oder die Kunst des Tee-Weges

Regie: Claude Pierre Salmony
DRS2, Basel (199?)

(…)
Mann: Römisch eins. Angewöhnung an die Nacht.
Er: Vielleicht? — Vielleicht. Ob man abgeholt wird?
Frau: Tee kann mehr.
Er: Ob sie einen abholen? Mit dem Auto, einem Auto, einem — Wagen.
Mann: Geht man plötzlich aus dem Licht in die Dunkelheit über, so bleibt man für einige Zeit fast blind.
Er: Vielleicht — vielleicht kriegt man eine Mitteilung. Dass man — dreiundzwanzig. Zehn. Man hat mir nie — ich habe nie, niemandem — erzählt, nichts — geredet, zu niemandem, nie. Ich habe nichts gewusst. Ich weiss nichts
Sie: Es ist Nacht. Ich erwache. Ich habe geträumt, aber ich kann mich an nichts erinnern.
Er: Vielleicht müsste man sich melden, anmelden — bewerben. Vielleicht hätte ich mich vor Jahren bewerben müssen. Dann wäre ich jetzt nicht mehr — wäre nicht mehr hier — aber wo?
Frau: Innerlich — abführend, appetitanregend, beruhigend, entblähend, gallensafttreibend, krampflösend, verdauungsfördernd.
Er: Es gibt ja keine — man kann nicht einfach — es sagt einem ja niemand etwas. Alle schweigen nur, dabei — irgendjemand muss doch — müsste doch wissen, wo man sich melden kann. Wo man sich melden muss, damit — damit sie einen holen können. Wenn sie einen holen. Wenn man nicht —
Mann: Das Leben in der industrialisierten Welt lässt uns immer weniger Erfahrung mitbringen über das Verhalten in der Dunkelheit. Deshalb muss die Angewöhung an die Nacht geübt werden.
Er: Vielleicht muss man selbst hingehen — hingehen. Aber wohin — in welche — Richtung? Man kann ja nicht alles absuchen, abgehen. Irgendeinen Anhaltspunkt müssten sie einem — müsste man bekommen — von jemandem, von den offiziellen Stellen, zum Beispiel. Aber es sagt ja niemand etwas — nur immer weniger sind es — werden es.
Sie: Ich bin aufgewacht. Es ist dunkel. Ich habe ein Geräusch gehört. Ich höre ein Geräusch.
Er: Vielleicht — vielleicht, gut, wissen es die einen, wissen wohin oder werden abgeholt. Aber sie sagen nichts. Oder können nichts sagen — vielleicht werden sie überraschend — vielleicht wissen sie vorher nichts.
Frau: Beruhigend, krampflösend und verdauungsfördernd, bei Verdauungsbeschwerden.
Er: Oder sie gehen einfach los, ohne zu wissen — oder sie wissen etwas und sagen es nicht. — Aber woher? — Woher können sie etwas wissen. Ich müsste es ja auch wissen. Ich bin ja immer da gewesen — zehn, dreiundzwanzig — man müsste ja auch — es ist nie jemand zurückgekommen. Man weiss viel zu wenig.
Sie: Ich habe geträumt. Ich bin erwacht. Es ist Nacht. Ich kann mich an nichts erinnern. Ich höre ein Geräusch. Das Geräusch verstummt. Es ist nichts mehr zu hören.
Er: Wenn es — vorgesehen ist. Geplant. — Dann wird einem — dann muss einem — man darf annehmen, dass einem gesagt wird, was man mitzunehmen hat, wenn man etwas mitzunehmen hat, wenn man abgeholt wird — aber dafür spricht nichts. Ausser, dass es immer weniger sind. Decken vielleicht, Nahrungsmittel — Tee — Dinge verschwinden — Menschen verschwinden. Man weiss so gut wie nichts
Sie: Ich erwache. Es ist Nacht. Ich höre ein Geräusch. Ich richte mich auf. Das Geräusch verstummt.
Er: Man muss vorsichtig sein. Es verschwindet vieles — hört man — hört man — sonst hört man nichts. Nichts, was irgendwie von Wert wäre. Aufschlussreich. Man spricht nicht miteinander. Aus Vorsicht.
Mann: Wenn das Sichtvermögen abnimmt, so wird das Hören wichtiger. Die Natur ist stiller bei Nacht.
Sie: Ich habe ein Geräusch gehört. Ich weiss nicht, was es war. Es klang wie ein Fahrzeug. Ein grosses Fahrzeug. Jetzt ist es wieder still.
(…) 

 

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