Kleiner Mensch, einen grossen Berg betrachtend

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Gross, denkt der kleine Mensch zuerst, gross diese Berge und alles massiv. Dann denkt er etwas über die kulturelle Bedeutung des Alpenraumes nach, überlegt sich besorgt die Folgen der Annahme der Alpeninitiative (schickt dabei einen wohlgewählten Fluch gegen den bewölkten Himmel) und denkt noch kurz an diese Almfilme mit den schwedischen Sennerinnen. Der Naturjodel, denkt er, Ausdruck Schweizerischer Eigenständigkeit.
Dann weiss er eigentlich nicht mehr, was er noch denken soll, aber der Berg ist noch immer da. Grau und grau. Die Japaner, die neben ihm auf der Aussichtsterrasse gestanden sind, haben in den Souvenirshop disloziert. Dislozieren, denkt der kleine Mensch, Berge versetzen. Woher? Wohin? Weshalb? Berge stehen lassen. Aber, denkt er, dafür braucht es mich eigentlich nicht (so ehrlich ist er schon). Sie bleiben ja auch so, wo sie sind. Trotzdem liebt er den Gedanken, dass die Berge nur stehen bleiben, weil er und seine Partei sich dafür einsetzen. Aber er weiss, dass es nicht wahr ist. Er sagt gerne: ich liebe die Berge und mein Land (in einem Atemzug). Obwohl er weiss, dass es nicht wahr ist. Wie so vieles nicht wahr ist, was er und seine Partei sagen. Wenn er jetzt darüber nachdenkt, so muss er zugeben, dass ihm die Berge nicht viel bedeuten. Nur: Militärerinnerungen, Höhenmeter, Frieren. Und: Kühe, Postautos, Passstrassen. Und: Alpenlandquintett. Wenigstens.
Man könnte einen Hirsch nicht sehen, dort drüben, selbst wenn einer da wäre. Woher er weiss, dass keiner da ist? Wie sollte einer da sein, ausgerechnet jetzt einer da sein, ausgerechnet jetzt.
Berge überhaupt, denkt der kleine Mensch. So eine Idee. Zu nichts gut, denkt er, aber gross, das muss man zugeben. Man fühlt sich gering in den Bergen, denkt er, und deshalb hasst er die Berge. Was ist denn ein Berg anderes als gefaltetes Flachland. Er lacht, nur so für sich, aber er ist kein fröhlicher Mensch.
3’089 m. ü. M., stand beim Ausgang der Bergbahn, 10’135 feet und Grüezi, Bonjour, Welcome und etwas Japanisches. Das jetzt auch schon. Die Japaner sind schon ein erstaunliches Volk, denkt er. Jetzt sind sie im Souvenirshop. Warum sie wohl lachen. Lachen sie ihn aus? Können sie ihn überhaupt sehen? Wollen sie ihn sehen? Seine Haare müssen ihm schon am Kopf kleben. Aber der Lodenmantel hält immer noch dicht. Erstaunlich, diese Lodenmäntel. Sein Grosvater war Deutscher und trug nur Lodenmäntel. Vielleicht hat er deshalb nie diese Enge Beziehung zu den Bergen gehabt. Deutschland ist ja flacher. Wesentlich flacher.
Bannwald. Was das schon heisst. Alle fünfzigtausend Jahre schlägt sowieso ein riesiger Meteor in die Erde ein. Oder alle fünfhunderttausend Jahre? Da hilft kein Bannwald. Aber dagegen machen die Grünen nichts.
Jetzt steht er schon bald eine halbe Stunde hier draussen, im Nieselregen, und die Berge sagen ihm noch immer nichts. Stumm stehen sie da und sagen nichts. Stumm und dumm, denkt der kleine Mann, und steil und dreckig und kalt — und nass. Hirsche hin oder her.
Was ist nur schiefgegangen? fragt sich der kleine Mann. Und wann? Wenn es ein Schicksalsschlag gewesen wäre, wohlan, er hätte ihn auf sich genommen, mit aufrechter Haltung zu tragen gewusst. Aber so. Irgendwann war die Schönheit abhanden gekommen. Diese Spannung. Die Spannung der Schönheit, denkt er. Man weiss ja nicht, wie so etwas geschieht. Man könnte ja ein Vermögen verdienen, wenn man es wüsste. Ein Vermögen hat er allerdings schon. Noch eins dann, noch ein Vermögen verdienen, dann hätte man zwei. Auch nicht schlecht.
Wenn nur diese Berge nicht so da stünden, so vorwurfsvoll schweigend. So überheblich. Man müsste sie eben doch verschieben. Weg verschieben. Weg machen. Er überschlägt kurz im Kopf, was es kosten würde und gibt den Gedanken gleich wieder auf.
Er ist müde. Müde im Kopf. Nicht weil er zuviel gedacht hat, bestimmt nicht. Eher aus Überdruss. Zuviel Scheisse, denkt er, sagen würde er das nicht. Aber wahr ist es. Zuviel Mist geredet, zuviel Mist gelesen, zuviel Mist gehört. Zuviel gelogen. Sein Gehirn ist ein Misthaufen, denkt er, ein grosser, übelriechender Misthaufen.
Er friert. Jetzt friert er auch noch. Der Mensch ist doch ein elendes Geschöpf, denkt er, elend auf einer elenden Erde. Und diese elenden Berge und der elende Hirsch, der jetzt ganz bestimmt nicht dort drüben ist (und wenn er dort drüben wäre, wen würde es kümmern!) und diese elenden, lachenden Japaner. Und seine Haare kleben am Kopf. Viel hat er ja nicht mehr. Elender Haarausfall, elendes Leben. Und da unten, über den Gletscher kommen noch mehr so elende Touristen um sich diese elenden Berge anzuschauen und im Bergrestaurant den lausigen Kaffe zu horrenden Preisen zu trinken.
Und da rutscht eine Touristin auf dem Eis und fällt um. Und da muss er lachen, der kleine Mensch.

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