Ungefähre Landschaft

Roman, 2001, Arche-Verlag,
Zürich und Hamburg

Preis der Schweizerischen Schillerstiftung 2002
Carl Heinrich Ernst-Kunstpreis für Literatur 2002

Ausserdem erschienen in:

Frankreich, Spanien, Italien, Holland, Korea, Estland, U.S.A., Kroatien, Georgien, Tschechien, Slowakei

(…)
Morten öffnete die Tür. Er lächelte. In der Hand hielt er eine Weinflasche. Kathrine trat in die Wohnung. Sie nahm ihm die Weinflasche aus der Hand, stellte sie auf den Tisch und küsste Morten auf den Mund. Sie zogen sich schnell aus, rannten fast ins Schlafzimmer und liebten sich. Beide sagten, das hätten sie sich schon lange gewünscht, schon immer, aber Kathrine war sich nicht sicher, ob es stimmte. Sie waren ein bisschen verlegen, sich nach so vielen Jahren nackt zu sehen. Einmal, als Morten Kathrine von hinten umklammerte, flüsterte sie, er solle schmutzige Dinge zu ihr sagen. Er tat sein Bestes, aber es gelang ihm nicht recht und das machte auch nichts. Dann weinte Kathrine ein bisschen, sie hatte ein schlechtes Gewissen. Und als Morten fragte, weshalb, sagte sie, sie liebe Thomas. Und sie war sich nicht sicher, ob es nicht die Wahrheit war.
Am nächsten Morgen schämte Kathrine sich für das, was geschehen war und dafür, dass sie Morten gebeten hatte, schmutzige Dinge zu ihr zu sagen. Aber Morten war wieder sehr zärtlich. Im Badezimmer küsste er sie auf den Nacken, und sie weinte noch einmal ein bisschen.
Kathrine war schon wieder ganz angezogen, Morten stand in Boxershorts am Herd und kochte Kaffee. Dann war Kathrine plötzlich sehr zufrieden und fand, es sei eigentlich ihr Recht gewesen, mit Morten zu schlafen. Sie trennten sich freundschaftlich, ohne schlechtes Gewissen, aber auch ohne sich zu verabreden. Als Kathrine die Wohnung verliess, passte sie sehr gut auf, dass niemand sie sah. Im Büro dachte sie noch immer an Morten, denn es war schön gewesen in der Nacht.
Den nächsten Abend verbrachte Kathrine bei ihrer Mutter, und am Abend darauf war Thomas wieder da. Er fragte, wie das Fest gewesen sei, und Kathrine sagte, schön. Sie sassen in der Stube, Kathrine las, Thomas schaute fern. Er fragte noch, ob es spät geworden sei, und Kathrine sagte, ja, spät, und lächelte. Dann erzählte sie, dass sie gestern bei ihrer Mutter gewesen sei, worüber sie gesprochen hätten, dass sie spazieren gegangen seien, was die Mutter gekocht habe. Sie schaute Thomas an. Er sass ganz entspannt auf dem Sofa und sah, so von der Seite, älter aus als er war. Er würde sie nie wieder nach der Feier fragen, nach jenem Abend und jener Nacht, dachte Kathrine, so einfach war das. Sie war erstaunt, wie leicht ihr das Lügen gefallen war, aber sie schämte sich nicht. Und dann fragte sie sich, ob auch Thomas sie irgendwann belogen hatte.
(…)

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