Über meine journalistische Arbeit

Ich setze also meine Studien fort

Vortrag vom 16.2.2012 in Hamburg für die Zeitschrift «Reportagen»

«In Norwegen gibt es einen Fjord – einen langen, schmalen Meeresarm zwischen hohen Bergen – mit Namen Berlevåg-Fjord. Am Fuss der Berge liegt die kleine Stadt Berlevåg, die wie ein Puppenstädtchen aus dem Kinderbaukasten aussieht: lauter hölzerne Häuserchen in grau, gelb, rosa und vielen anderen Farben.»
Das ist der Anfang der weltberühmten Novelle «Babettes Fest» von Tanja Blixen oder Isak Dinesen die zum ersten Mal 1958 erschien. Als Ernest Hemingway vier Jahre früher den Nobelpreis bekam, sagte er: «I would have been happy – happier – today if the prize had been given to that beautiful writer Isak Dinesen.» Ein erstaunlich bescheidener Satz für das angebliche Grossmaul.
«Babettes Fest» ist ein wunderbares Buch, aber als Journalistin wäre Tanja Blixen durchgefallen. Denn in Berlevåg gibt es weder einen Fjord noch hohe Berge. Und die Bewohner der Finnmark, der nördlichsten Provinz Norwegens, sind alles andere als die strengen Pietisten, als die Blixen sie beschreibt. Sie nennen sich die Italiener des Nordens, sind lebensfreudig und viel weniger religiös als die Norweger im Süden. Im 19. Jahrhundert trieben sich auf der Barentssee Tausende von Walfängern herum. In den Dörfer an der Küste scheint die Hölle los gewesen zu sein, wenn die Walfänger an Land kamen und sich in Kneipen und Bordellen vergnügten.
Tanja Blixen war eine grosse Autorin. Aber in Afrika – sie schrieb die Vorlage zu «Out of Africa» – kannte sich die Dänin definitiv besser aus als in Nordnorwegen. Allerdings will «Babettes Fest» auch gar kein Reiseführer sein. Die Geschichte ist ein Märchen über gesellschaftliche Zwänge, über Lebensfreude und eine grosse Liebe. Würde Karen Blixen das Buch heute schreiben, würde sie vielleicht kurz bei Google Maps nachschauen oder einen anderen Namen für ihr fiktives Dorf wählen.
1987 wurde «Babettes Fest» vom Dänen Gabriel Axel verfilmt. Er drehte den Film allerdings nicht in Norwegen, das er zu idyllisch fand, sondern im Westen Jütlands auf dem dänischen Festland. Als Begründung sagte er: «Es gibt vieles, was in einem Text funktioniert. Aber wenn es in Bilder übersetzt wird, erzeugt es nicht die selben Gefühle und Eindrücke. Alle Änderungen, die ich gemacht habe, machte ich um Karen Blixens Text treu zu sein.»
Nun haben wir drei Berlevågs, die alle denselben Namen tragen und doch völlig verschieden sind. Ein echtes, das heute noch existiert, aber alles andere als idyllisch ist, ein falsches, das eine Autorin erfunden hat, ziemlich sicher, ohne das echte jemals gesehen zu haben und eines, das ein Filmemacher geschaffen hat, der versuchte das falsche echt darzustellen. Dabei aber das echte falsch verstand.
Die weissen Landschaften des Nordens waren immer schon eine Leinwand, auf die alles mögliche projiziert wurde. Viele, die über den Norden schreiben, schreiben vor allem über sich selbst.

Auch über das Nachbardorf von Berlevåg, das 90 km entfernte Båtsfjord gibt es einen Film. Er heisst «Taxi zum Eismeer» und wurde 2002 für den NDR gedreht. Der Film zeigt ein winziges Dorf voller Sonderlinge, die mit viel Witz und Lebensweisheit die harten Winter überstehen. Die Hauptperson des Filmes ist Oddvar Bruvoll, der «singende Taxifahrer». Er ist um die fünfzig Jahre alt, fährt die Bewohner des Dorfes durch die winterlichen Landschaften und wiederholt zwei Mal, dass Båtsfjord der Ort ist, in dem er geboren wurde und sterben möchte. Vor kurzem hat Oddvar Randi geheiratet, die in der Fischfabrik arbeitet.

Vor zwei Jahren erst haben die beiden geheiratet. Es hat spät aber heftig gefunkt zwischen ihnen. Und niemand im Dorf hätte damit gerechnet, dass sie jemals ein Paar werden würden. Die beiden kenne sich schon aus der Sandkiste, hatten damals aber noch kein Augen füreinander.
«Wir sind zusammen zur Schule gegangen.», sagt Oddvar.
Und Randi sagt: «Und ich hab ihn gehasst damals.»

Oddvar ist ein leidenschaftlicher Sänger. Er hat eine CD herausgegeben:

Seit seine CD auf dem Markt ist, kennt jeder am Eismeer den singenden Taxifahrer von Båtsfjord. Und wenn er von der Sehnsucht, der Liebe und der Heimat singt, dann ist das fast so, als hätte den ganzen Tag die Sonne geschienen.

Als ich Båtsfjord im Jahr 2000 zum ersten Mal besuchte, brauchte ich kein Taxi und lernte Oddvar nicht kennen. Ich war mit dem Fotografen Markus Bühler in das Dorf gekommen, um über die vielen Tamilen zu schreiben, die in den Fischfabriken arbeiteten. Ein schwieriges Unterfangen, da die Tamilen misstrauisch waren und alle so taten, als gebe es keine Probleme. In solchen Fällen hilft nur die Zeit. Man muss dieselbe Person mehrmals interviewen, um beim zweiten oder dritten Mal dann doch etwas zu erfahren. Die Reportage schrieb ich für die Neue Zürcher Zeitung. Zur selben Zeit hatte ich ein Romanprojekt, das noch keinen Ort hatte. Nachdem ich in Båtsfjord gewesen war, wusste ich, dass das der Ort für meinen Roman war. Im Januar 2001 fuhr ich noch einmal für drei Wochen ins Dorf um zu recherchieren. Im Herbst erschien der Roman unter dem Titel «Ungefähre Landschaft».
2005 besuchte ich das Dorf zum bisher letzten Mal. Die Zeitschrift «mare» hatte mich hingeschickt, um einen Text über den singenden Taxifahrer zu schreiben. Aber schon während der Vorrecherchen merkte ich, dass das keine Geschichte war. Der skurrile Sonderling aus dem Film, der mit 50 seine Jugendliebe heiratete, war tatsächlich schon einmal verheiratet gewesen und hatte drei Kinder. Und von der CD, die ihn angeblich am ganzen Eismeer bekannt gemacht hatte, hatte er keine 500 Stück verkauft. Überhaupt war er ziemlich mürrisch und schien keine rechte Lust auf Publicity mehr zu haben. Die Realität, die ich antraf, war weit weniger skurril als im Film:

Mitten im Dorf steht eine kleine Holzhütte, in der Oddvar und seine Kollegen auf Kunden warten. Drinnen läuft Tag und Nacht der Fernseher, darunter steht ein riesiger Pappkarton mit leeren Softdrinkflaschen. Die Aschenbecher sind überfüllt. An der Wand hängen der Fahrplan der Hurtigruten und eine Liste mit den An- und Abflugzeiten des Flughafens, in der Toilette ein Poster von der «Miss International Wet T-Shirt ’99».
Wenn Oddvar eine Fahrt bekommt, ist er selten länger weg als fünf Minuten; die Wege sind kurz. Einmal sagt er, er hasse diesen Beruf, dann, er liebe ihn, und es klingt, als meine er beide Mal dasselbe. Vor einigen Jahren erlangte Oddvar ein wenig Berühmtheit, als er eine CD mit Softrock und Rock ’n’ Roll aufnahm. Damals ist sogar ein deutsches Fernsehteam ins Dorf gekommen, um einen Film über ihn zu drehen. Aber inzwischen hat er das Singen aufgegeben. Die CD habe ihn viel Geld gekostet, sagt er. Von den 1000 Stück, die er pressen ließ, habe er vielleicht die Hälfte verkauft. Nicht einmal im Elektro- und Musikgeschäft gegenüber vom Taxistand ist sie noch zu haben, obwohl der Inhaber ein Freund des Taxifahrers ist.

Ich bin mir bis heute nicht sicher, ob der Filmemacher bewusst ein falsches Bild von Båtsfjord gezeigt hat, ob er das Bild vermittelt hat, das die Dorfbewohner von sich hatten oder ob er einfach nur das sah, was er sehen wollte. Für mich war dieser Film das beste Beispiel dafür, wie man lügen kann ohne irgendeine Unwahrheit zu sagen.
Während derselben Reise besuchten wir auch noch Kiruna, wo wir eine Reportage über die Eisenbergwerke machen wollten. Bei der ersten Besichtigung merkten wir, dass Bergarbeiter heute in Büros sitzen und die Bohrer mit Joysticks steuern. Der Fotograf verwarf die Hände. Minen sind von vornherein keine sehr geeigneten Fotosujets, menschenleere Minen sind eine Katastrophe. Innerhalb eines Tages mussten wir eine neue Geschichte finden, um die Reisespesen zu rechtfertigen. Schliesslich machten wir eine Reportage über die Sami. Auch in dieser Geschichte ging es um das Spannungsverhältnis zwischen dem, was wir als Journalisten erwarten und dem, was wir in der Wirklichkeit antreffen:

In den Tagen mit den Rentierzüchtern fällt es uns immer schwerer, Tradition und wirkliches Leben zu unterscheiden. Noch hängt das Rentierfleisch zum Trocknen vor den Häusern, noch stecken die Arbeitsmesser im Hornschaft. Aber manches wirkt nur noch wie ein Zitat, wie die Beschwörung einer Zeit, die endgültig vergangen ist. So wollen die Samen gesehen werden, so wollen sie sich selber sehen. Es ist schwierig, sich ein Bild zu machen, wenn die Wirklichkeit zum Bild erstarrt ist. Vielleicht haben die Samen selbst nur noch ein Bild von sich, das sie hüten und das sie in Souvenirläden und künstlichen Dörfern verkaufen. Aber die Arbeitskleidung ist längst von Helly Hansen, und vor dem Haus des Rentierbauern Per Nils Päiviö stand ein finnischer Lastwagen der Paletten mit Kraftfutter ablud.

Wenn ich Reportagereisen gemacht habe, habe ich immer versucht, möglichst unvoreingenommen und unvorbereitet an einen Ort heranzugehen. «It’s what I’ve never seen before that I recognize», hat die Fotografin Diane Arbus einmal gesagt. Mir geht es genauso. Ich kann nur über Menschen und Orte schreiben, die ich eben erst kennenlerne. Oft ist der Text nichts anderes als das Journal dieses Kennenlernens.
Diese Vorgehensweise hat gewisse Risiken. Mehr als ein Mal ist es mir passiert, dass ich nach kurzer Zeit merkte, dass die Geschichte, die ich schreiben wollte, keine Geschichte war. Eine meiner schlechteren Ideen war es, eine Lungenklinik zu besuchen, um über die Atemlosigkeit unserer Gesellschaft nachzudenken. Eine zufällige Flugzeugbekanntschaft mit einer Krankengymnastin hatte mich darauf gebracht. Im Proposal hörte sich das so an:

Wir wollen über die Atemnot nachdenken, über den Atem, der nicht nur etymologisch mit der Seele verwandt ist, über eine kurzatmige Zeit. Wir wollen mit Menschen reden, denen die Luft ausgeht, mit Menschen, deren Beruf es ist, das atmen zu lehren.

Und so hörte es sich in der Reportage an:

Es ist Anfang Dezember, und die Krankengymnastin Karen Klink singt mit den Patienten Weihnachtslieder. «Singen ist das beste Atemtraining», sagt sie. Weihnachtslieder sängen sie nur in der ersten Dezemberwoche. Danach stellten sie auf Frühlingslieder um, weil die Leute sonst weinen müssten. «Kein schöner Land», brüllt Karen den Gang hinunter, damit auch jene Patienten mitsingen können, die bettlägrig sind. Aus einigen Zimmern tönt es leise: «Dass wir uns hier in diesem Tal, noch treffen so viel hundertmal: Gott mag es schenken, Gott mag es lenken, er hat die Gnad».
Als ich draussen warte, bis das Singen vorüber ist, wird ein Bett mit einem zugedeckten Körper an mir vorüber und in den Lift gerollt. Ein Patient versucht, sich mit in den Lift zu drängen, aber ein Pfleger hält ihn zurück. Ich glaube im Gesicht des Patienten einen Anflug von Triumph zu sehen, und mir fällt die Schwester ein, die einem Kranken vom Tod eines Zimmernachbarn erzählte, worauf dieser meinte: «Na, wenn nur ich es nicht bin.»
Wie oft habe ich das gedacht hier, «wenn nur ich es nicht bin». Und mich geschämt dafür. Ich war ins Heidehaus gekommen, um über das Atmen nachzudenken, über die Kurzatmigkeit oder Atemlosigkeit unserer Gesellschaft. Aber schon als ich das Gelände betrat, merkte ich, dass es schwierig sein würde, von hier über den Atem unserer Zeit zu berichten. Es ist ruhig in der Klinik, auch wenn die Autobahn jenseits der hohen Schallschutzmauer nie ganz verstummt. Die Ruhe scheint aus dem grossen Wald zu kommen, in dem die Gebäude der Klinik liegen. Sie scheint von den langen Wegen zu kommen, die in den Wald hineinführen und in der Entfernung im feuchten Dunst verschwinden. Hier und da sieht man Spaziergänger, alleine oder zu zweit. Die Patienten gehen langsam, die Besucher schnell wenn sie kommen, langsamer wenn sie gehen. Dann weinen manche.

Auch dieses Material habe ich später literarisch verarbeitet in der Erzählung «Blitzeis», die 1999 in der gleichnamigen Erzählsammlung erschien.

Vor vier Jahren wurde ich von Francis Bueb des Centre André Malraux zu einem Literaturfestival in Sarajevo eingeladen. Nachdem wir vielleicht fünf Tage in der Stadt verbracht hatten, bat uns der Veranstalter, einen Text über Sarajevo zu verfassen. Noch bevor ich mir überhaupt Gedanken gemacht hatte, kam schon der Beitrag eines berühmten Kollegen mit dem schönen, von Shakespeare entlehnten Titel: How with this rage shall beauty hold a plea? Die besten Übersetzung, die ich für diese Gedichtzeile gefunden habe, lautet: Wie trotzte dieser Wut die Schönheit je?

Ich habe einen kleinen Ausschnitt des Textes meines Kollegen ins Deutsche übersetzt:

Im Büro von Francis Bueb hängt eine Fotografie. Es ist, ohne Zweifel, die schrecklichste und schönste Fotografie, die ich je gesehen habe. Ein Mädchen liegt in den Strassen von Sarajevo, verwundet, Blut auf ihrem weissen Kleid. Ihr Haar ist dunkel und zerzaust. Sie starrt in die Kamera, mit unermesslicher Traurigkeit. Unermesslich. Vor ihr liegt ein kleiner Hund, offensichtlich geliebt, von einem Scharfschützen erschossen. Hinter ihr die Umrisse eines toten Mannes, es könnte ihr Vater sein, ihr Bruder, ein Fremder. Das Mädchen lebt, verletzt, aber sie lebt. Der Schafschütze lässt sie am Leben, damit er jene töten kann, die versuchen, sie zu retten. In einiger Entfernung – in einer Strasse, die für den Scharfschützen nicht erreichbar ist – steht ein Mann und beobachtet die Szene. Das Bild ist entsetzlich in seiner Intensität und die meisten Leute, die es sehen, mich selbst inbegriffen, müssen es umdrehen, weil wir sein Gewicht nicht ertragen.

Und doch ist es von grösster Schönheit, dieses Bild. Es ist schön, weil es unvergesslich ist. Es ist schön, weil das junge Mädchen immer noch die Leidenschaft zu bitten hat. Warum? Es ist schön, weil sie tiefere Schönheit gekannt hat. Es ist schön weil sie in das dunkle Auge der Kamera schaut und uns bittet – den Scharfschützen, den Politiker, den Geliebten, den Trinker, den Poeten, den Kameramann, den Kellner, den Früchteverkäufer, den Journalisten, selbst Francis Bueb – sie bittet uns, uns irgendwie zu vergeben. Uns diesen Moment anzuschauen und ihn zu verändern in den tiefsten Kammern unseres Seins.

Sie macht uns zu Zeugen. Und ohne Zeugen gibt es nichts. Ohne Zeugen gibt es noch nicht einmal ein Vergehen. Sie wird in ihrem tiefsten Kern zu einer Künstlerin unserer Zeit.

Der Text geht noch eine Weile so weiter, erzählt uns, dass der Fotograf das Mädchen gerettet habe und endet mit den bewegenden Sätzen:

Lassen sie mich noch einmal eine Fotografie von Sarajevo machen. Ein Hund liegt auf dem Boden. Der Hund ist tot. Er ist in den Armen einer Frau. Ein toter Mann liegt hinter ihr. Ein anderer Mann beobachtet die Szene. Wir beobachten die Szene. Wir müssen in diese Fotografie treten und diese Mädchen herausreissen. Wir … müssen …

Dieser Text hat mich mit seinem Pathos und seiner Ästhetisierung des Grauens empört und erzürnt. Mein Text war als Antwort darauf gedacht. Ich zitiere nur kurz daraus:

Ich will nicht über Sarajevo schreiben. Es ist mir, als habe ich nach fünf Tagen in der Stadt nicht das Recht dazu. Als der Krieg ausbrach, als der Krieg tobte, als er zu Ende ging, war ich nicht da. Es wäre damals schwierig gewesen, nach Sarajevo zu gehen, etwas zum Frieden beizutragen, aber es war nicht unmöglich. Es gab Menschen, die es getan und etwas verändert haben. Ich sass in dieser Zeit in der Schweiz und las in der Zeitung über die Ungeheuerlichkeiten und war so gelähmt wie fast ganz Europa. Ich bin nicht nach Sarajevo gegangen, nicht nach Tschetschenien oder in den Kosovo oder nach Georgien. Und ich weiss, dass ich wieder nicht hingehen werde, wenn irgendwo anders ein Krieg ausbricht. Ich würde an mein eigenes Leben denken und an das meiner Kinder. Das ist nicht heroisch, aber es ist menschlich. Jetzt über Sarajevo zu schreiben, käme mir vor, als missbrauchte ich das Leid dieser Stadt und ihrer Bewohner.
(…)
Ich darf nicht über den Krieg schreiben. Die Erinnerung an den Krieg gehört den Opfern. Wer den Krieg nicht erlebt hat, kann ihn nicht verstehen. Wer ihn nicht erlebt hat, ist in Gefahr, ihn zu romantisieren, in den Tonfall jener zu verfallen, die mit ihren Hassreden die Menschen auseinandergetrieben und gegeneinander aufgehetzt haben, den Tonfall der grossen Gefühle. Grosse Gefühle sind an jeder Hausecke zu bekommen, sie kosten nichts, sie sind nicht genug.
Die Rhetorik des Friedens muss eine andere sein als jene des Krieges. Der Frieden ist komplizierter als der Krieg, er kennt weder den Rausch des Sieges noch den Rausch der Trauer. Die grossen Gefühle helfen nicht, das Geschehene zu bewältigen oder auch nur darzustellen. Die Opfer machen keine grossen Worte.

Ich war nicht erstaunt, dass der Text meines Kollegen besser ankam bei den Organisatoren als meiner. So viel ich weiss ist er aber inzwischen in keines der Kriegsbilder gestiegen, die auch heute noch aus allen Weltgegenden zu uns kommen und hat kein verwundetes Mädchen gerettet.

Als ich die zwei Vorträge meiner Vorgängerinnen in diese Reihe anschaute¨, jenen von Sabine Riedel und von Margrit Sprecher, die ich für ihre journalistische Arbeit bewundere, fiel mir auf, dass beide vor allem über das Scheitern gesprochen hatten, darüber was schief gegangen war bei ihren Reportagen. Dies geschah bestimmt nicht aus falscher Bescheidenheit, sondern weil das Scheitern ein ganz wesentlicher Teil des Schreibprozesses ist. Ich möchte behaupten, es kann keine gute Reportage entstehen, in der nicht auch ein Teil dieses Scheiterns enthalten ist.
Die Beziehung zu einem Thema ist vergleichbar mit der Beziehung zu einem Menschen: man lernt den anderen erst richtig kennen, wenn etwas schief geht. Beziehungen wachsen an Krisen. Das gilt auch für journalistische und erst recht für literarische Texte.

Was ich meine, lässt sich sehr gut an zwei Zitaten von Paul Cézanne zeigen. Zum einen sagte er, er wolle ganz Paris mit einem Apfel in Erstaunen versetzen. Zum anderen, schrieb er ein Jahr vor seinem Tod in einem Brief: „«Je continue donc mes études.» Ich setze also meine Studien fort.
Cézanne hatte nie die Selbstzufriedenheit eines Picasso, der Meisterwerke am Laufmeter produzierte. Er forschte bis zu seinem Tod, wie dieser eine Apfel zu malen wäre, mit dem er ganz Paris hätte erobern können. Dabei war er sich sicher, dass ein einzelner Apfel genügen würde. Cézannes Arbeit war ein dauerndes Scheitern, aber in diesem Scheitern hat er einige der schönsten Bilder des 19. Jahrhunderts gemalt.

Dass ein Apfel genügt merkte ich, als ich vor langer Zeit für die Neue Zürcher Zeitung eine Reportage über den Flughafen in der Nacht schrieb. Ein klassisches Anfängerthema. Das merkte ich leider zu spät und beschrieb auf eineinhalb Zeitungsseiten ein Dutzend Menschen, die nichts anderes verband, als dass sie in der Nacht auf dem Flughafen arbeiteten. Ich konnte den Text einigermassen retten, indem ich mich einbrachte und ihn als eine Art Tagebuch – oder besser Nächtebuch – gestaltete. Aber im Nachhinein merkte ich, dass ich wohl besser einen einzigen Nachtarbeiter ausgewählt und ihm den Platz gewährt hätte, der jedem von uns zusteht und den jeder von uns füllen kann, wenn man ihm nur gut zuhört.
Es ist ein Fehler den Autoren fast noch häufiger machen als Journalisten: sie stopfen möglichst viel in ihre Texte aus Angst, den Lesern nicht genug zu bieten. Dabei ist ein genauer und ehrlicher Satz mehr wert, als zehn Seiten Geschwätz. Ein Apfel genügt.

Meine erste Notiz für diesen Vortrag machte ich eines Nachts vor dem ins Bett gehen. Der Satz war mir bei meiner letzten Zigarette eingefallen und nach ein paar Gläsern Wein. Ich schrieb ihn auf ein Blatt Papier, das irgendwo herumlag:
«Der gute Journalist glaubt zugleich an die Wahrheit und akzeptiert, dass es sie nicht gibt.»

Der Zettel lag Wochen lang im Bad. Ich sah ihn jeden Morgen und jeden Abend. Manchmal formulierte ich den Satz im Kopf um, manchmal verwarf ich ihn ganz, dann wieder leuchtete er mir ein, auch wenn ich nicht zu apodiktischen Formulierungen neige. «Der gute Journalist …»
Es ist ein weit verbreiteter Irrtum, dass ein guter Journalist – und übrigens auch ein guter Schriftsteller – einer sei, der gut schreiben könne. Gut schreiben müssen Werber und Politiker, für die die Sprache ein Mittel zum Zweck ist. Journalisten und Schriftsteller sollten die Sprache nicht beherrschen, sie sollten mit ihr ringen, sich um sie bemühen, an ihr scheitern. Nur so können sie der Wirklichkeit nahe kommen, die sich dauernd entzieht.
Interessanterweise kenne ich etliche Fotografen und Künstler, die Sehfehler haben. Vielleicht hilft ihnen die Schwierigkeit beim Sehen, es bewusster zu tun und es nicht für Selbstverständlich zu nehmen.

Vor vielen Jahren schrieb ich als Teil eines Buches über das Gotthardgebiet eine kleine Reportage über einen alten Volksbrauch, die Woldmannli. Eine Familienzeitschrift zeigte sich interessiert am Thema. Aber der Brauch war alles andere als schöne Folklore. Die Kostüme waren aus alten Kaffeesäcken hergestellt, auf denen «Café do Brasil» stand und das Biertrinken und Wirtshauspolitisieren hatten im Dorf – und auch in meinem Text – mehr Gewicht als der kurze Umzug. Als ich die Reportage ablieferte, sagte die Redakteurin: «So habe ich mir das aber nicht vorgestellt.» Ich weiss nicht mehr, ob ich die Geistesgegenwart hatte zu sagen: «Aber so war es.»

Er wolle so schreiben, wie es war, soll Ernest Hemingway gesagt haben. Seine Texte sind etwas aus der Mode gekommen, aber ich kann nur jeder und jedem empfehlen, sich seine Kurzgeschichten noch einmal anzuschauen. Sie sind ein wunderschönes Beispiel dafür, wie sich Wirklichkeit in Sprache abbilden lässt. Ebenso die Erzählungen von Cesare Pavese, die späten von Anton Cechov und die späten, nicht zu Tode lektorierten von Raymond Carver.

Ich habe vor, für «Reportagen» einen Text über Teheran zu schreiben. Im Mai will ich hinfliegen. Ich werde den einen oder anderen Bekannten in der Stadt im Voraus kontaktieren und im Zeitungsarchiv die Artikel der letzten Monate über den Iran lesen. Mehr Vorbereitung brauche ich nicht, mehr würde mich nur behindern. Stattdessen werde ich viel zu Fuss gehen und die Augen aufmachen, mit möglichst vielen Menschen reden. Der Zufall wird eine wesentliche Rolle spielen bei der Entstehung der Reportage und ich weiss schon jetzt, dass ich nach zwei oder drei Tagen verzweifelt sein werde, weil ich die Geschichte nicht sehe. Wenn ich Glück habe, wird sie sich dann plötzlich aus den gesammelten Eindrücken herauskristallisieren. Sie wird höchst subjektiv werden. Aber subjektiv ist jedes Bild, das wir uns machen. Subjektiv ist die Welt. Statt nach einer nicht erreichbaren Objektivität zu streben, müssen wir uns im klaren Sehen üben.
Obwohl ich seit zwanzig Jahren nicht viel anderes mache als zu schreiben, misslingt mir noch immer die Hälfte meiner Texte. Das ist manchmal ganz schön anstrengend und oft sehr frustrierend. Der einzige Trost ist es, dass dann und wann einer gelingt.

 

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