Landstamm

An einem kalten Novemberabend, nach einer Flasche schweren Weines, trieb es uns noch einmal nach draussen. Wir waren philosophischer Stimmung und mieden die belebten Gassen der Sankt Galler Innenstadt, gingen stattdessen, Ruhe suchend, aus der Stadt hinaus nach Osten. Wir wollten dem Himmel nahe sein.
Nach kaum einer Viertelstunde eiligen Fussmarsches, öffnete sich vor uns ein kleines Tal. Eben noch durch dunklen Wald gewandert, standen wir unvermittelt vor einer lieblichen, fast schon alpenländischen Weide, an deren tiefstem Punkt ein kleines Gasthaus vom bleichen Mond beschienen lag. Ein frischer Geruch von Gras und Alpvieh liess die nahe Stadt vergessen, und wir schritten frisch aus und erreichten in kürzester Zeit den Gasthof und traten ein. Wir waren nicht die einzigen Gäste.
Mitten im Raum, an einem langen Tische, sassen wohl zwanzig junge Männer. Auch der eine oder andere reife Mann sass zwischen ihnen. Alle trugen die Farben einer Burschenschaft oder Verbindung der hiesigen Wirtschaftsuniversität. Wir setzten uns in einen Winkel des Raumes und bemerkten erst jetzt an einem im schummrigen Licht fast verborgenen Tisch zwei junge Frauen, die das nun Folgende mit ebensolchem Erstaunen und wachsendem Missmute beobachteten, wie wir selbst.
Am langen Tisch war allerlei Gespräch, und dann und wann erhob einer der Farbengeschmückten sich und seine Stimme und sprach in kernigem Deutsch einen Satz, eine Floskel, worauf jedesmal Leben in die Burschen kam und der eine oder andere aufzustehen, ein Lied von sich zu geben oder eine bestimmte Menge Bieres zu sich zu nehmen hatte.
Das ging so eine Weile, immer wieder unterbrochen vom munter grölenden Absingen etwa der Regensburger Strudelfahrt oder einer anderen Burschenschnulze. Schliesslich, nach einigen herrischen Worten des Obermeisters, Kapitäns oder Häuptlings, sonderten sich zwei bleiche Bürschchen vom Tische. Es wurde ihnen ein Papier — ein Sündenregister schien es mir — vorgelesen und eine Strafe, bemessen in Hieben, zugesprochen, worauf sich der eine, ein fast durchsichtiges Menschlein mit zitternden Lippen über einen Stuhl legte. Der General sprach nun zu einem am Tische verbliebenen: «Ich bitte Perseus zehn Hiebe zu tun.» Hierauf erhob sich der so angesprochene, und amtete mit einem einer Reitpeitsche nicht unähnlichen Instrument seines Amtes, indem er dieses unter den Scherzworten der am Tische verbliebenen wiederholt auf das Gesäss des Knienden schnellen liess. Nach ihm wurde ein Nächster zum Folterstuhle gebeten.
Immer neue schlugen in der Folge, der eine sanft, mit beschämtem Gesichte, der andere mit aller Kraft und einem angsteinflössenden Glanz in den trunkenen Augen. Der Geprügelte verliess einmal, mitten in der Züchtigung, eilig den Raum, um sich zu übergeben, kam aber sogleich nur um weniges bleicher zurück und erdauerte den Rest seiner Strafe demütig. Die letzten Schläge wurden laut mitgezählt und bald der Geprügelte entlassen. Sodann vollzog sich auch am zweiten Knaben das tolle und gespenstische Spiel. Dieser zählte gar selbst die Schläge mit und feuerte auch gelegentlich einen sanfter Schlagenden auf, seiner Pflicht getreulich nachzukommen.
Unser Gespräch war indessen erlahmt, und ich hatte mich empört von meinem Stuhle erhoben, als die Wirtin, eine noch junge Frau, an unseren Tisch trat. Es handle sich, sagte sie, hier um einen Landstamm. Die Geprügelten würden von Füchsen zu Burschen befördert, es sei dies ein alter Brauch. Die Wirtin ging dann zum Tisch der zwei jungen Frauen, um auch diese zu beschwichtigen, als der Obermensch in einer tollen Laune einen der älteren Trinkgenossen, einen sogenannten Altherrn, aufforderte, einige Hiebe zu versuchen. Dieser sprach mit gesetzter Stimme, er denke nicht daran, und versicherte uns später unter weniger Augen, seinerzeits sei dies nicht der Brauch gewesen. Aber die Ausgelassenheit der jungen Bursche hatte schon ein solch beängstigendes Mass angenommen, dass selbst diese Weigerung sie nicht hinderte, die Prügelei fortzusetzen.
Bald verliessen die zwei jungen Frauen den Gasthof. Die Empörung war aus ihren Gesichtern und ihrem gebärdenreichen Gespräch zu lesen. Auch wir bezahlten kopfschüttelnd unsere Labung und sahen noch, schon stehend, wie die zwei Füchse, barfuss (dies geschah im November) und mit zusammengebundenen Beinen, Kartoffelsäcke über ihre bleichen Häupter gestülpt, aus dem Wirtshof in den Schnee geführt wurden. Dann waren wir davon. Nichts hielt uns mehr am Ort dieses schaurigen Geschehens
Der Leser mag sich fragen, was dies alles bedeute. Ich selbst stellte mir diese Frage an jenem abend und noch oft danach. Ich kann weder Erklärung dafür noch Sinn darin finden und nur versichern, dass alles so geschah, und dass ich nichts hinzugefügt und nichts weggelassen habe. Möge der Allmächtige ihnen gnädig sein, denn sie wissen nicht, was sie tun.

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