Jetzt auch als Hörspiel

Liebe zwischen Tal und Gipfel

aus der Reihe:
Erna, die schöne Krankenschwester – Lieben und Leiden einer edlen Dulderin

Seit Stunden irrte die schöne Krankenschwester Erna durch den oberengadiner Hochwald. Bis Finstermünz hatte der willige Postbus in kurviger Fahrt sie gebracht, und sie war mit manchem preisgegebenen Erlebnis die Freude der fröhlichen Fahrgemeinschaft von bunten Hochgebirgsoriginalen gewesen. Aber an der massivhölzernen Haltestelle hatte Friedel Lustig, der gute Geist von Klinik Wolfsschlucht nicht wie abgemacht gewartet. Erna hatte sich für ein Stündlein die Füsse in ihren straffen Bauch gestanden, dann hatte der rege Krankenengel nicht länger gefackelt und den schweren Weg auf seine eigenen, fraulichen Schultern genommen. Die lustige Inzingerwirtin hatte ihr bei einer schinkernen Jause den Weg genau beschrieben.

«Immer aufi», hatte die rührige Mitfünfzigerin gefrotzelt, «bis’d den Schmalzkogel siehst. Dann is’nimmer weit.»

Doch schwere Flocken senkten sich auf die schroffe Gebirgslandschaft sowie Ernens Scheitel, und es war nicht daran zu denken, den Schmalzkogel irgendwo zu sehen. Erna war froh, wenn sie ihre eigenen, zierlichen Füsse noch sah, die sie bedächtig aber ausdauernd in die flaumige Pulverdecke pflanzte. Über Bock und Stein führte der schmale Weg, durch pittoreske Schluchten und dunkle Waldwüchse, vorbei an so mancher trutzigen Wettertanne. Süsser Schweiss rann von Ernas weisser Stirn, die kein böser Gedanke jemals durchquert hatte.

«Auch dieses Abenteuer», dachte sie, «werde ich mit Gottes Hilfe tapfer bestehen, wie schon damals die Nacht im Zelt des geheimnisvollen Beduinen wo ich meine Jungfräulichkeit nur mit äusserster Not rettete (siehe: «Erna bei den Beduinen») oder die mich rettende Durchschwimmung des Ärmelkanals mit zwei gebrochenen Beinen (siehe: «Erna auf hoher See»)».

Aber da hörte sie ein unheimliches Heulen. Dies ist nicht der Wind, dachte Erna. Und wirklich: hinter der nächsten Tanne angekommen, starrte sie in die blutunterlaufenen Augen eines riesigen Wolfes zwischen dessen messerscharfen Zähnen noch die Speisereste seines letzten Opfers klemmten.

«Uhuuu», sagte der Wolf, und sein stinkender Atem fuhr dampfend in Ernas schönes Gesicht. Mit letzter Kraft hauchte sie «Hülfe!» in die kalte Winternacht. Dann sank sie ohnmächtig darnieder.
Als sie ihre rehblauen Augen wieder öffnete, blendete sie ein Kronleuchter von nie gesehener Schönheit.

«Sie sind nun in Burg Wolfsschlucht», sagte eine sanfte Stimme, die sie für den Rest ihres Lebens hätte hören mögen, «sie müssen keine Angst mehr haben.»

Und Erna spürte, wie die starken Arme, in denen sie gelegen hatte, sie sanft auf ihre schneenassen Bergschuhe zurückstellten. Noch taumelte sie angstgeschwächt, aber sie spürte schon, wie das keusche Blut wieder in ihre zierlichen Glieder zurückkehrte und ihren schönen Körper mit neuer Lebenskraft erfüllte.

«Wer sind sie?» fragte Erna in das blendende Licht, und Tränen traten in ihre Augen, die so knapp einem fürchterlichen Todesfall entronnen waren.

«Ich bin Doktor Nordmann», sagte die Stimme, die Erna nun zu einem wie aus Stein gemeisselten Gesicht gehörig erkannte, «der schon in jungen Jahren berühmte Herzchirurg. Ich soll hier eine neue Stelle antreten und habe sie unterwegs dem stinkenden Schlund des Wolfes entrissen. Aber jetzt müssen sie tapfer sein. Schon kommt das Empfangskomitee.»

Ja, da kamen sie alle, die Ärzte und Schwestern, um die Neuangekommenen tüchtig zu begrüssen. Bald war die rustikale Halle von fröhlichen Stimmen erfüllt, und jeder wollte die Erste sein, der dem berühmten Doktor die Hand drückte oder die süsse Schwester in ihre Arme schloss.

«Nun, nun», machte sich da eine bärbeissige Stimme breit, «ihr zerdrückt mir ja die zwei späten, jedoch lieben Gäste.»

Und eine Gasse pflügend, trat Professor Enrico Raimondi, der bärbeissige Chefarzt der Klinik, auf Schwester Erna Ahlsen und Doktor Gunter Nordmann zu. Kräftig drückte er der beiden Hände und sagte: «Ich begrüsse sie ganz herzlich auf Burg Wolfsschlucht, der weltführenden Klinik für Fusspilz und eingewachsene Zehennägel. Möge ihr Aufenthalt ein glücklicher sein.»

Die letzten Worte gingen unter im Frohgelocke der Menge. Alles lachte und war froh. Nur in einer dunkeln Ecke stand ein buckliger Mann mit gelbem Gesicht, der sich nicht freute. Es war der Pathologe, der Sektionschef, der Leichenschneider, Doktor Jérôme Speivogel, der das ausgelassene Treiben mit zusammengekniffenen Augen verfolgte.

Und dann verstummten plötzlich alle wie durch ein nukleares Wunder, und durch die Stille hörte man weit entfernt eine weiche Männerstimme. Ohne Instrumentalbegleitung klang ein leises Lied durch den draussen tosenden Sturm:

«Ach, dass Gott walt›!
Wie ist es so kalt!
Möcht› einer erfrieren,
Das Leben verlieren.
Wie scharf geht der Wind,
Wie dauert mich das Kind!»

«Wer ist das», fragte Doktor Nordmann auf’s Höchste erstaunt. Doch Professor Raimondi schüttelte nur erbleichten Angesichts den Kopf und sagte mit angstdurchbebter Stimme: «Ich habe nichts gehört.»

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