Erzählungen, 191 Seiten, S. Fischer Verlag, Frankfurt, 2020
(…)
Er verließ die Hauptstraße und ging durch kleinere Straßen, die zwischen den Wohnblocks hindurchführten. Unter dem Vordach eines der Häuser stand eine junge Frau und rauchte. Sie trug trotz der Kühle nur Jeans und ein dünnes T-Shirt und schien ihn zu beobachten. David wandte den Blick ab. Hier wäre ein gutes Versteck, wenn er untertauchen müsste, dachte er. Er blieb stehen und drehte sich um. Die Frau schaute immer noch zu ihm herüber, und plötzlich fasste er einen Entschluss und ging auf sie zu. Sie verzog keine Miene, schaute ihm entgegen mit vollkommener Gleichgültigkeit. Er fragte, ob hier vielleicht eine Wohnung frei sei. Die Frau schwieg lange, dann sagte sie, hast du keinen Schirm? Nein, sagte David. Ich suche nämlich eine Wohnung. Für dich allein?, fragte die Frau. Wie alt bist du? Ihr T-Shirt war aus ganz dünnem Stoff, und David sah, wie sich ihr BH darunter abzeichnete. Ich bin nicht von hier, sagte er. Ich auch nicht, sagte die Frau. Sie schwiegen wieder, als sei schon alles gesagt oder noch gar nichts. Endlich trat die Frau ihre Zigarette aus, sagte tschüss und wandte sich um. Es wäre schön, hier zu wohnen, sagte David. Ich glaube nicht, sagte die Frau, ohne sich noch einmal umzudrehen, und verschwand im Haus. Durch die Glastür sah David, wie sie die Treppe hochstieg. Er hoffte, dass sie seine Blicke spüren und sich noch einmal umdrehen würde. Sie würde ihn anlächeln und wieder herunterkommen und ihm die Tür aufhalten. Komm doch mit rein. In ihrer Wohnung wäre es kühl und etwas düster. Wir sollten die nassen Sachen ausziehen, sagte sie. Aber ihre Kleider waren ja gar nicht nass.
(…)
Aus: «Nahtigal»
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