Der Autor im Gespräch mit Wolfgang Nieß vom SWR in der Stadtbibliothek Stuttgart am 7. Januar 2013 (Externer Link).
Einige Videos und anderes Material auf der Website der Landesakademie für Fortbildung und Personalentwicklung an Schulen (Externer Link).
Videoportrait von Videominutes (Externer Link).
Kapitel 12:
Auszug, erschienen in
Entgrenzungen. Vierzehn Autorengespräche über Liebe, Leben und Literatur
von Olga Olivia Kasaty, edition text + kritik, München 2007
Laut deiner Biographie hast du eigentlich zwei Schreibberufe: du bist einerseits Journalist und andererseits Schriftsteller. Was gibst du als deinen Beruf an und warum?
Früher habe ich schon sehr oft «Journalist» geschrieben, inzwischen schreibe ich «Autor» oder «Schriftsteller».
Ich habe als literarischer Schriftsteller angefangen, habe damit aber lange keinen Erfolg gehabt und dann teil- und zeitweise journalistisch gearbeitet. Das war aber nie im Zentrum, sondern immer nur eine Möglichkeit etwas zu publizieren und Geld zu verdienen. Ich bin kein besonders guter Journalist gewesen. Ich habe viele große Reportagen geschrieben, aber die hatten eher literarischen Charakter. Ich habe nie wirklich investigativen Journalismus betrieben.
Dass ich mich jetzt ein wenig vom Journalismus distanziere, ist keine Arroganz, sondern geschieht eigentlich aus Respekt vor dem Beruf.
Was und wo hast du eigentlich studiert/gelernt?
Ich war einmal Buchhalter und habe nach einer kaufmännischen Ausbildung die Matura nachgeholt und ein halbes Jahr Englisch studiert. Dann bin ich für ein halbes Jahr nach New York gegangen und habe dort für Swiss Tourism Fahrplanauskünfte erteilt.
Nachdem ich zurück in der Schweiz war, habe das Literaturstudium abgebrochen und zur Psychologie gewechselt, weil ich mir sagte, das Thema der Literatur ist nicht die Literatur, sondern der Mensch. Ich wollte immer mehr über die Menschen erfahren. Mit dieser Neugier war ich bei der Psychologie auch nicht ganz am richtigen Platz. Aber ich denke das Studium hat mein Menschenbild doch geprägt. Vor allem die Psychopathologie, die ich im Nebenfach studierte und die auch zwei dreimonatige Praktika in psychiatrischen Kliniken beinhaltete. Ich habe die Zwischenprüfung gemacht und dann das Studium abgebrochen.
Um zu schreiben?
Ja, es war wirklich eine bewusste Entscheidung, das Schreiben ins Zentrum zu stellen. Ich habe das Studium bewusst abgebrochen. Mir erschien die Gefahr zu groß, nach dem Abschluss eine gutbezahlte Stelle angeboten zu bekommen und dann der Lebenslüge zu verfallen, mir irgendwann die Zeit zu nehmen um ein Buch zu schreiben.
Wann und warum hast du dich für Literatur entschieden? Gab es eine Entscheidung oder war es einfach ein Zufall?
Ich weiss nicht mehr genau, wie es dazu kam. Ich habe in meinem Leben ziemlich viele Sachen ausprobiert, und die meisten haben mich nach einiger Zeit gelangweilt. Ich wollte z.B. Fotograf werden, aber irgendwann interessierte mich das nicht mehr. Und ich war auch nicht gut darin.
Das Schreiben hat mich immer fasziniert, und tut es noch heute. Es wird mir nie langweilig. Würde es mich langweilen, würde ich vermutlich aufhören damit.
Ist Schreiben ein einsamer Prozess?
Eigentlich bin ich beim Schreiben nicht einsam. Dann bin ich in einer künstlichen Welt mit meinen Figuren zusammen. Das klingt vielleicht etwas seltsam, aber es ist wahr. Einsam bin ich eher nach dem Schreiben, wenn ich zu müde bin, um noch rauszugehen und Leute zu treffen.
Was wolltest du als Kind werden? Wann hast du die ersten Texte verfasst?
Es gibt einen ganz frühen Text, der noch aus der Vorschulzeit stammt. Ich habe von meinen älteren Geschwistern schreiben gelernt. Der Text ist ein Rezept für Haferbrei. Den habe ich noch irgendwo. Er besteht aus einem einzigen, aber sehr langen Wort: mannehmeeinen… und so weiter… Ich muss dazu sagen, dass ich auch mal Koch werden wollte. Dann gibt es ein frühes Gedicht auf einen Radrennfahrer, Ferdi Kübler, der damals sehr bekannt war.
In der Schule habe ich gerne Aufsätze geschrieben, und hatte da auch immer gute Noten. Aber in der Zeit war der Aufsatz in der Schule nicht sehr wichtig. Es wurde viel mit Bildergeschichten gearbeitet, zu denen man Texte schreiben sollte. Das war reines Nacherzählen. Ich habe als Kind ein paarmal versucht, ein Tagebuch zu führen. Das erste Buchprojekt entstand aber erst mit ungefähr 20 Jahren.
Das Lob für deinen Erstling war sehr groß. Fast von heute auf morgen bis du einfach in die literarische Welt «hineingeschlittert». Fast alle Kritiken waren sehr gut.
Die Zeit: «Eine der schönsten Geschichten, die in letzter Zeit ein junger Schweizer geschrieben hat», Neue Züricher Zeitung: «Ein fulminantes Debüt», Focus: «Die Schweizer Literatur darf sich zu dieser neuen und unverwechselbaren Stimme gratulieren».
Wie war deine Reaktion darauf? Hattest du Angst, mit solch horrenden Erwartungen umzugehen?
Nein. Ich hatte damals ja schon sehr lange geschrieben. Wie gesagt, das erste Buchprojekt hatte ich mit 20. Am Anfang hatte ich noch grosse Träume, aber dann habe ich gemerkt, dass ich mein Schreiben nicht von Erfolgen abhängig machen darf. Wenn man keinen Erfolg hat, muss die Motivation von woanders kommen. Die Motivation kam immer mehr von der Freude am Schreiben. Und die ist im Laufe der Zeit sogar noch gewachsen.
Als ich dieses ganze Lob bekam, war das einfach schön. Aber ich wusste auch, dass ich mich von den Kritikern nicht abhängig machen durfte. Ich hatte ja zehn Jahre lang gehört, dass meine Texte nicht gut genug waren, und weitergemacht. Da habe ich auch den guten Kritiken nicht ganz getraut. Es war bestimmt ein Vorteil, dass ich nicht mehr so jung war. Ich bin, glaube ich, auf dem Boden geblieben und habe meine Arbeit einfach weitergemacht. Dazu kommt, dass ich nie Existenzängste hatte. Wenn ich keine Bücher mehr schreiben kann, dann mache ich etwas anderes. Nicht, dass ich das vorhabe, aber ich denke nicht, nur als Schriftsteller überleben zu können. Man muss frei und offen bleiben und sollte nicht vor dem Gedanken zittern, ruiniert zu sein, wenn das nächste Buch nicht funktioniert.
Wie arbeitest du? Hast du regelmäßige «Arbeitszeiten» oder ist es eher «esoterisch», indem die Energie kommt und geht und du dich danach richtest?
Ja, eher Letzteres. Ich versuche schon diszipliniert zu arbeiten, weil es mein einziger Beruf ist, aber es gibt auch Momente, in denen wirklich nichts geschieht. Früher habe ich mir dann Sorgen gemacht, jetzt bin ich gelassener. Auch wenn man nicht schreibt, arbeitet man in gewissem Sinn weiter. Man denkt nach oder macht Erfahrungen, die später in Bücher einfliessen. Ich versuche trotzdem eine gewisse Disziplin zu halten.
Wie würdest du dein Thema benennen? Worüber schreibst du?
Ich schreibe über Menschen und über Beziehungen zwischen Menschen. Aber das heisst nicht viel. Es gibt auch Themen, die sich erst mit der Zeit herauskristallisieren. Eins dieser Themen ist für mich «Realität und Fiktion», ich weiss nicht warum. Dann interessieren mich Liebesbeziehungen, die Unmöglichkeit von Beziehungen. Aber letztlich sind die Themen nicht so wichtig. Ich vergleiche meine Texte oft mit Skulpturen. Auch da geht es ja nur beschränkt darum, was dargestellt wird. Jahrtausendelang haben Bildhauer nackte Menschen abgebildet, aber es ging nicht darum nackte Menschen zu zeigen, sondern um die Form.
Auch in der Literatur geht es mir vor allem um die Form, also: wie wird eine Geschichte erzählt? Der Inhalt einer Geschichte ist auch wichtig, aber er ist nicht das Entscheidende. Deshalb kann man auch immer wieder dieselben Geschichten erzählen, weil es eigentlich nicht darum geht …ich mag keine «originelle» Literatur; ich will nicht Geschichten von transsexuellen Balletttänzern erzaehlt bekommen, die zu russischen Generälen werden oder Aehnliches. Da konzentriert man sich viel zu sehr auf den Inhalt. Für mich ist der Inhalt vor allem das Transportmittel für die Form.
In der Malerei, im Stilleben zum Beispiel, ist es ganz ähnlich. Originelle Sujets wählen nur Amateure. Warum malen grosse Maler drei Pfirsiche? In der Literatur fällt man leicht in diese Falle, Geschichten erzählen zu wollen, obwohl es letztendlich nicht um Geschichten geht.
Marcel Reich-Ranicki sagte neulich in einem Interview, dass Literatur dazu da ist, das Leiden der Menschen zu zeigen. Würdest du dieser These zustimmen?
Vielleicht. Ich glaube, dass Schreiben eine Form der Kommunikation ist zwischen Menschen aber auch zwischen Ländern und Generationen. Was wüssten wir von den Menschen von vor zweitausend Jahren, wenn wir nicht ihre Literatur lesen könnten. Was in dieser Literatur steht, ist nicht so wichtig. Mich interessiert in alten Texten nicht so sehr, wie man damals gelebt hat, was für Kleider man getragen hat und was gegessen. Das schöne ist vielmehr, zu sehen, was gleich geblieben ist. Dass die Menschen damals wie heute dieselben Sorgen und dieselben Träume gehabt haben. Das ist das verbindende der Literatur.
Deshalb muss Literatur auch publiziert werden. Damit diese Kommunikation stattfinden kann. Es ist etwas ganz anderes, ob ich nur für mich selbst schreibe oder ob ich für Andere schreibe.
Die Literatur kann nicht nur das Leiden, sondern auch die Freude der Menschen zeigen. Entscheidend ist, dass eine Kommunikation stattfindet. Dass die Leser und Leserinnen merken, es gibt noch andere Menschen, die fühlen wie ich.
Ist das Schreiben eine Art Auseinandersetzung mit dem Erlebten?
Literatur ist eine Verdichtung. Wir können ja ganz normal reden miteinander. Auch dann kommunizieren wir. Das besondere an der Literatur ist ihre Allgemeingültigkeit. Ich erzähle in meinen Büchern nicht von mir, ich versuche, Geschichten zu erzählen, in denen mehr steckt, als meine Erlebnisse und Meinungen. Vielleicht Sinn, vielleicht Schönheit.
Hast du das schon oft erlebt, dass deine Leser auf dich zukamen, um dir mitzuteilen, dass sie das auch «so» erlebt haben?
Ja, das passiert besonders bei den Lesungen sehr oft. Ich meine nicht nur das Konkrete – also dass Leute sagen, sie seien auch in Norwegen gewesen. Es gibt in allen Altersklassen Leute, die sich in meine Geschichten einfühlen können. Aber auch solche, die gar nichts damit anfangen können.
Agnes lässt ihren Freund eine Geschichte über ihre Liebe schreiben. Warum tut sie das?
Er sagt: «indem ich etwas schreibe, sehe ich es wirklicher, klarer» und sie will wissen, was er von ihr hält. Sie misstraut seinen Liebeserklärungen, will sich vergewissern und erwartet über den Text eine ehrlichere, tiefere Kommunikation mit ihm. Sie hofft wohl, dass er aufschreibt, was er nicht sagen kann. Und dass sie so erfährt, wie er zu ihr steht, wie er sie sieht. Wenn man schreibt, ist man vielmehr bei sich, als wenn man spricht. Vielleicht traut man deshalb dem Geschriebenen mehr als dem Gesagten.
Es ist viel einfacher, einen anderen zu erkennen, als sich selbst. Vielleicht funktioniert Selbsterkenntnis überhaupt nur darüber, dass man von anderen erkannt wird. Man erkennt sich in dem Bild, das sich der Andere von einem macht. Man könnte das vermutlich evolutionär begründen: Wir haben keinen Vorteil daraus, uns selbst zu erkennen. Aber es ist wichtig, dass wir den erkennen, der uns gegenübersteht, dass wir wissen, ob er ein potentieller Freund oder Feind ist, Futter oder Geschlechtspartner. Wer ich bin, ist letztlich egal. Ich bin es ja und kann es nicht ändern.
Irgendwann überholt das Geschriebene die Realität. Ist das nicht gefährlich?
Es ging mir in «Agnes» nicht um das Schreiben, sondern um die Psychologie der Beziehung. Ich habe das selbst erlebt. Wir machen uns sehr schnell Bilder von Menschen. Die Beziehungen finden zwar statt, aber man lebt nicht mit einer Person, sondern mit der Vorstellung, die man sich von dieser Person macht. Darin liegt auch der Grund für viele Probleme in Beziehungen. Viele Menschen können sich dem Anderen gegenüber nicht richtig öffnen, weil sie immer dieses Bild von ihm im Kopf haben. In diesem Sinne ist es schon angebracht, zu sagen, dass die Bilder im Kopf stärker sind als die Realität. Manchmal gibt es im Streit Momente, in denen man sich wieder näher kommt, aber das ist selten. Oft werden die Bilder, die wir voneinander haben, im Streit besonders deutlich. Wenn dann einer sagt, das habe er nicht so gemeint, dann ist es für den anderen sehr schwer, die Vorstellung aufzugeben, die er sich gemacht hat. Jede Beziehung zwischen zwei Menschen existiert in zwei Versionen. Die Beziehung verbindet zwei Menschen, aber jeder von ihnen liest das Geschehene auf seine eigene Art. Wir leben mit diesen Geschichten und in diesen Geschichten.
Magst du deine Figuren?
Natürlich mag ich sie, ich muss sie mindestens innerhalb des Buches mögen. Ich kann zwar nicht hinter allem stehen, was sie tun, aber ich muss sie mögen, muss ihnen nah sein. Es wäre auch einfach unangenehm, mit einem Menschen so viel Zeit zu verbringen, den man nicht mag.
Was sind deine Vorbilder in der Literatur?
Ich spreche nicht gerne von Vorbildern. Es geht ja nicht darum, wie jemand Anderer zu schreiben, sondern zu seinem eigenen Stil zu finden. Aber natürlich habe ich von ganz vielen Autorinnen und Autoren gelernt.
Die wichtigsten Einflüsse sind wahrscheinlich die Autoren, die man früh liest. Das waren bei mir vor allem Ernest Hemingway, der bestimmt auch Raymond Carver beeinflusst hat. Dann Cesare Pavese, Henrik Ibsen, Friedrich Dürrenmatt, vermutlich auch Albert Camus und Henri de Montherlant.