Es ist ein seltsames Phänomen, dass alles, was man während der Arbeit an einem Text liest, sieht, hört, mit diesem in Verbindung zu treten scheint. «Agnes» enthält Details aus den verschiedensten Quellen. So hat die Hauptfigur beispielsweise eine Eigenschaft, die ich meiner Schwester und eine, die ich meinem Vater abgeschaut habe. Ihr Stottern und einige äusserliche Eigenschaften stammen von einer Dozentin, dich ich an der Uni kennenlernte, eine ihrer Marotten von einer meiner Exfreundinnen. Aber das bedeutet nicht, dass irgendeine dieser Personen das Vorbild für Agnes war. Diese kleinen Details und Beobachtungen gehörten einfach zum Fundus meiner Erfahrungen, aus dem ich mich beim Schreiben bediene.
Bevor meine Figuren Namen haben, bezeichne ich sie in meinen Notizen oft mit zufälligen Initialen. Die Männerfiguren bezeichne ich meistens mit «A.» wie Adam. (Und oft tragen sie später auch in den Büchern Namen, die mit A beginnen, wie Andreas in «An einem Tag wie diesem» oder Alexander in «Sieben Jahre».) In der ersten Notiz zu Agnes ist einfach von «einem Schriftsteller» und «einem Mädchen» die Rede. Ich hatte im Hinterkopf einen dänischen Namen für Agnes, konnte mich aber nicht mehr an ihn erinnern. Ich blätterte durch dänische Telefonbücher, bis ich den Namen Solveig wieder gefunden hatte. Allerdings wurde mir dann – nicht nur wegen Ibsens «Per Gynt» – sofort klar, dass es der falsche Name war.
Als mir einigermassen bewusst wurde, worum es mir in der Geschichte ging, fiel mir ein Gedicht von John Keats ein, das ich aus dem Englischstudium kannte, «Ode on a Grecian Urn». Während ich in meiner Keats-Ausgabe blätterte, fiel mir das Gedicht «The Eve of St. Agnes» auf und ich wusste sofort, dass ich den Namen für meine Figur gefunden hatte.
Ebenso zufällig bin ich auf das Thema der Luxuseisenbahnwagen gestossen, über die der Erzähler schreibt. Ich suchte in einer amerikanischen Enzyklopädie nach der Pygmalionsage, die ebenfalls thematisch mit «Agnes» zusammenhängt und stiess auf den Eintrag zum Pullman-Streik. (Solche zufälligen Nachbarschaften gibt es nur in gedruckten Büchern, Wikipedia-Artikel haben keine Nachbarn.) Da mir Pullman-Wagen ein Begriff waren, las ich den Artikel und bemerkte, dass George Mortimer Pullman für seine Arbeiter ebenso eine Art künstlicher Welt geschaffen hatte, wie der Erzähler für Agnes.
Kurz bevor ich «Agnes» schrieb, verbrachte ich drei Monate in New York in der Absicht, dort zu schreiben. Ich wohnte zusammen mit einem nigerianischen Studenten an der Grenze zu Spanish Harlem in einer Wohnung, die ich später für die Erzählung «Das reine Land» in «Blitzeis» verwendete. (Allerdings wird sie in der Geschichte von einem Paar bewohnt, mit dem ich während eines früheren New York Aufenthaltes zusammengewohnt hatte.) Während dieses Aufenthaltes besuchte ich einen Freund in Chicago. Eine Woche lang wohnte ich bei ihm im Doral Plaza, dem Gebäude, in dem der Erzähler von Agnes wohnt.
Dass ich «Agnes» in Chicago (und nicht in New York, das ich viel besser kannte) ansiedelte, hatte mehrere Gründe. Vor allem schien mir in Chicago der Gegensatz von Natur und Kultur viel präsenter. Chicago hat ein extremes Klima und eine weniger lange Geschichte als New York. Es ist hier viel einsichtiger, was der Parkaufseher zu Agnes und zum Erzähler sagt: «Die Zivilisation ist nur eine dünne Haut, die sofort reißt, wenn man sie nicht mehr pflegt.» Zudem ist New York eine Stadt, von der jeder Bilder hat. Chicago war da viel weniger belastet, ein weisses Blatt. Immerhin habe ich als eine Art Hommage die New York Public Library, einer meiner liebsten Orte in New York, im Buch nach Chicago versetzt. Sowohl den grossen Lesesaal als auch die breite Freitreppe, auf der Agnes und der Erzähler sich zum ersten Mal unterhalten, gibt es in Chicago nicht.
Die Geschichte von der Frau, die Herbert wortlos küsst und dann verschwindet, hat mir ein Freund während meines ersten längeren New York-Aufenthalts 1988 erzählt. Die Tote, die Agnes und der Erzähler vor einem Restaurant finden habe ich mit Freunden 1983 in Paris gefunden, allerdings war es keine junge Frau, sondern ein älterer Mann. Den Hoosier National Park, in dem Agnes und der Erzähler wandern gehen, habe ich nie besucht. Ich konnte es mir nicht leisten, für Recherchen noch einmal in die U.S.A. zu reisen und Google Earth gab es damals noch nicht. Ich beschaffte mir einiges an Informationen, aber die beschriebene Landschaft ist eher jene in der Nähe von Kingston, Kanada, wo ich 1985 einige Wanderungen machte. Die Ohnmacht am Feuer hingegen erlebte ich 1988 bei einem Ausflug auf den Mount Washington, wo ein brasilianischer Freund mitten in der Wildnis plötzlich ohnmächtig wurde. (Im Gegensatz zur Ohnmacht von Agnes war der Grund für seine aber keine Schwangerschaft.)
So liessen sich noch von vielen Szenen und Details aus dem Buch erzählen, wo ihre Wurzeln liegen, aber letztlich ist es einerlei. Alles Material, das ich für «Agnes» verwendet habe, steht im Dienst des Romans. Es dient nie dazu, irgendetwas anderes zu erzählen, als die fiktive Geschichte einer fiktiven Figur.