«Indien», eine österreichische Kömödie
«Nach Indien wär i gern amal gfahrn»
von Peter Stamm
Am Schluss von «Indien» stirbt Kurt Fellner in den Armen von Heinzi Bösel ohne es ins Land seiner Träume, Indien, geschafft zu haben. Man kann das verraten, ohne irgendjemandem den Spass am Film zu verderben. Denn was «Indien» auszeichnet ist nicht die Handlung sondern der Humor. Das Tragische an der Geschichte der zwei Aussendienstler Heinzi und Kurt steigert noch die Wirkung des Humors, wie der Humor die Tragik verstärkt, ohne sie ins Rührseelige abgleiten zu lassen. Aber von vorn.
Kurt Fellner und Heinzi Bösel reisen als Restaurant- und Hotel-Inspektoren durch die österreichische Provinz. Kurt ist ein streberischer Schwätzer, der seinen Partner mit seinem endlosen Gelaber nervt. Besonders gerne erzählt er von Indien. Dort, weiss er, «essen die Leute überhaupt nur Reis. Die sitzen auf der Strassn, essen Reis, lachen dabei und manche verhungern.» Kurt selbst ist Rohköstler, ernährt sich von Gemüse und Früchten und genehmigt sich nur alle fünf Monate mal eine Wurstsemmel, denn «ab und zu etwas sündigen darf schon sein». Heinzi hingegen, ein fleischgewordener Kurt Zwicky, praktiziert die Kiwi-Diät:«Alles essen ausser Kiwi.» Sein ganzes Lebensglück sind die fetten Schnitzel vom Kalb und vom Schwein, die er als Testesser gratis bekommt und der Schnaps, den er sich von den Wirten schenken lässt, damit sein Urteil über sie positiv ausfällt. Er ist eine rundum gescheiterte Existenz, hat eine Frau die er nicht liebt, einen Sohn der ein anderer gezeugt hat, einen vergreisten Deutschen Schäferhund und ein schrottreifes Auto, mit dem er fährt, als wäre es ein Sportwagen. Dies, und Heinzis Angewohnheit Zoten zu erzählen und Bierbüchsen aus dem Autofenster zu werfen, treiben Kurt zur Weissglut. Schliesslich beschimpft der sonst immer ausgesucht Höfliche den primitiven Kollegen als «deppertes, ignorantes Arschgeigerl» und versucht nach einem Beinahunfall, die unfreiwillige Partnerschaft aufzulösen. Die Flucht misslingt und der Regen treibt die zwei wieder zusammen und in eine Runde noch grösserer gegenseitiger Verachtung. Dann aber wird Kurt von seiner Freundin sitzengelassen, und plötzlich wird klar, dass er nicht so ganz anders ist als der resignierten Kurt, dass auch in ihm ein «unappetitlicher, primitiver Trinker» steckt. Was als angenehme Dienstreise angefangen hat, endet als Sauftour. Immer näher kommen sich die zwei Inspektoren durch die gemeinsamen Besäufnisse und durch ihre Frauenprobleme, bis sie schliesslich untrennbare Freunde werden. «Sie sind der einzige Mensch nach meiner Mutter, neben dem ich scheissen hab können», sagt Heinzi in einer Schlüsselszene, «Sammer per du.»
Dann muss Kurt ins Spital: ein kleiner Schmerz, ein unerklärliches Geschwulst, in ein paar Tagen will er wieder draussen sein. Aber die kleine Schwellung ist ein Hodenkrebs. Kurt hat noch zwei Wochen zu leben. Jetzt erst wird seine junge Freundschaft mit Heinzi auf die Probe gestellt. Jeden Tag kommt der Kollege ins Spital, bringt Geschenke und lässt sich von Kurt in die indische Lehre der Wiedergeburt einführen:
Kurt: «Woher kommt der Regen?»
Heinzi: «Von den Wolken.»
Kurt: «Und die Wolken?»
Heinzi: «Kommen meistens von Irland.»
Kurt: «Woher kommt Irland?»
Heinzi (nach langem Überlegen): «Hast scho recht. Es gibt scho was.»
Sonst stellt sich Heinzi bei seiner Sterbebegleitung ziemlich tolpatschig an und er schafft es, immer das Falscheste im falschen Moment zu sagen. Aber seine Liebe zum kranken Kurt wiegt schwerer. «Heinzi du bist ein Idiot», sagt der schliesslich, «aber ich find es toll, dass du jetzt bei mir sitzst und kein anderer. Weil du nichts verstehst. Und das ist schön.»
Man merkt dem Film «Indien» deutlich an, dass er aus einem Zweipersonenstück entstanden ist. Die Nebenfiguren kommen kaum zu Wort, und gewisse Stellen des Filmes wirken dadurch etwas lange. Aber die Konzentration auf zwei Personen verstärkt gleichzeitig die Anteilnahme, und als Kurt schliesslich stirbt, ist sein kläglicher Tod bewegemd wie nur selten ein Filmtod. Alfred Dorfer und Josef Hader, beide Kabarettisten und Preisträger des Salzburger Stiers, haben «Indien» geschrieben, Paul Harather hat den Film in wunderschön ausgesuchten Provinznestern gedreht. Ein grosser Film ist «Indien» nicht. Ganz bestimmt aber ist er ein Film, den man nicht vergisst. Ein Film, der von Menschen handelt die wie wir alle — nach den Worten aus einem Kabarettprogrammes von Hader — «blinde Hendl, arme Hasln» sind. Und wenn Hader in seinem Soloprogramm sagt: «Es ist alles so enttäuschend. Die Kinder, die Liebe, die Akropolis. Das Leben verliert so dadurch, dass man es kennenlernt», so gilt dies wenigstens für seinen Film nicht. «Indien» ist auf jeden Fall ein Gewinn und alles andere als enttäuschend.
Nebelspalter, 19.6.95
• • •
«Signers Koffer» von Peter Liechti
Der Einzelne hat die Welt zu bestehen
Dreimal hat das Kind beim Zeuseln einen Papierkorb in Brand gesteckt. Einmal brannte ein Tisch, und auf der Küchenkombination hat das Kind Magnesium verbrannt. Das Loch geht nie mehr raus. Auf dem Teppich hat es mit dem Congo-Rot aus dem Chemiekasten einen Fleck gemacht. Den Wecker hat es kaputt gemacht und die Nähmaschine auch. Es hat eine Lego-Seilbahn mit Raketenantrieb gebaut. Es hat sein Moped frisiert bis es nicht mehr lief. Alles macht es kaputt, das böse Kind. Man muss es strafen.
Roman Signer ist siebenundfünfzig Jahre alt und macht noch immer alles kaputt. Sprengt, verbrennt, jagt in die Luft. Tische und Stühle zum Beispiel. Er experimentiert, probiert Dinge aus, macht Sachen, die wir vielleicht auch schon gerne gemacht hätten, aber uns nicht trauten. In einem Koffer eine Bobbahn hinunterfahren zum Beispiel. Sachen von Brücken fallen lassen, mit Raketen experimentieren. Roman Signer macht Sachen, die wir vielleicht gerne gemacht hätten, wenn wir auf die Idee gekommen wären. Sich von einer Rakete die Zipfelmütze vom Kopf reissen lassen. Gummihosen anziehen und sie mit Wasser füllen, bis man umfällt. Einen Tisch auf einem isländischen Bergsee schwimmen lassen. Seine Experimente, sagt Roman Signer, machen ihn glücklich.
Friedrich Dürrenmatt sagt: «Der Schriftsteller gebe es auf, die Welt retten zu wollen. Er wage es wieder, die Welt zu formen, aus ihrer Bildlosigkeit ein Bild zu machen.»
Roman Signer will die Welt nicht retten. Seine Arbeiten sind keine symbolischen Akte, keine politischen Aktionen. Signer geht an Orte, nach Island, auf den Stromboli, nach Polen, in die DDR. Im Gepäck hat er ein paar Raketen, Gummistiefel vielleicht oder einen Stuhl. «Wir sollten vollkommen offen bleiben», sagt er, «einfach losreisen und schauen und uns beeinflussen lassen.» Und dann macht er etwas. Und so seltsam die Aktionen oft sind — sie sind nie fehl am Platz. Sie lassen den Zuschauer die Landschaft deutlicher sehen, lassen ihn die Atmosphäre intensiver spüren. Sie sind Sehhilfen.
Manches misslingt. Das macht nichts. «Die Natur manifestiert sich auch, wenn etwas misslingt», sagt Signer. Vieles Gelingt. Im leerstehenden Kurhaus «Weissbad» zum Beispiel. Von Feuerwerkskörpern angetrieben, öffnen sich auf einen Schlag alle Fensterläden im obersten Stockwerk. Funken sprühen. Sekunden später wird ferngesteuert aus jedem Fenster ein Stuhl geschleudert.
Friedrich Dürrenmatt sagt: «Der Einzelne hat die Welt zu bestehen. Von ihm aus ist alles wieder zu gewinnen. Nur von ihm. Das ist seine grausame Einschränkung.»
Roman Signer ist ein Einzelner. «Man kommt ohne Menschen aus», sagt er. Er ist froh, wenn man ihn in Ruhe lässt, wenn man ihn «wie einen Apparat behandelt». Apparate sind für ihn nichts totes. Sie leben wie sein Piaggio, mit dem er durch die Gegend fährt.
Roman Signer ist keiner jener lauten Exzentriker, die sich in ihren Skurrilitäten sonnen. Er schämt sich für den Lärm, den seine Explosionen machen. Überhaupt schämt er sich, wenn er Aktionen macht: «Ich schäme mich — und dann verschwinde ich so schnell wie möglich.» Er lacht verlegen. Er macht kleine, unsichere Schritte. Er liebt es nicht, viel zu machen. «Ich denke lieber nach über meine Arbeit.»
Roman Signer geht über einen zugefrorenen See. Das Eis ist nicht dick genug und er weiss es. Plötzlich bricht er ein. Eine Kamera filmt seine Versuche, wieder aus dem Wasser herauszukriechen. Ein anderesmal steht er unter einer riesigen Brücke. Dort habe ein Selbstmörder die Schuhe ausgezogen, bevor er in die Tiefe sprang. Ferngesteuert lässt Signer ein Gewicht von der Brücke fallen. Ganz langsam verlässt er seinen Platz, und Sekunden später schlägt das Gewicht dort auf den Boden, wo er noch kurz zuvor gestanden hat. Er lässt den Tod auf sich zukommen und geht ihm dann im letzten Moment aus dem Weg. «Meine Arbeiten sind wie Fallen, die ich der Natur stelle», sagt er, «damit sie als Partnerin in die Gestaltung eingreift und sie vollendet.»
Manchmal stellt er auch keine Fallen. Geht nur an einen Ort, sieht ihn sich an und denkt nach. Polen beispielsweise, wo seine Frau herkommt. Dort sieht er zu, wie eine Ära zu Ende geht, sieht die «erschütternde Armseeligkeit», spürt etwas Endzeitliches, etwas Grosses, Beängstigendes, was nicht nur über diesem Land schwebt. Aber Roman Signer gibt nicht auf. Er legt seine kleinen Sprengsätze in mächtige Landschaften, in denen sie beinahe verschwinden. Er hat keine Chance. Aber jede Explosion ist für ihn eine Erlösung, eine Befreiung. Er ist der glückliche Sisyphos von Camus. Indem er der Absurdität des Lebens die Absurdität seiner Kunst entgegenhält, macht er nicht nur sich selbst glücklich. Signers Kunst ist für ihn und für uns eine Überlebenshilfe in einem Land, wo Menschen die Schuhe ausziehen, bevor sie sich von Brücken stürzen.
P.S.: Das alles ist übrigens ein Dokumentarfilm. Und man kann ihn sehen, im Kino. Und Peter Liechti, dem Mann der diesen schönen Film gemacht hat, gebührt Dank. «Ich zeige bei meiner Arbeit soviel vom Umfeld, bis sich jeder das Zentrum selber vorstellen kann», sagt Liechti. Dafür, dass er einen Film gemacht hat, der nicht sich selbst ins Zentrum setzt, gebührt ihm noch einmal Dank.
Nebelspalter, 16.10.95
• • •
«Martha» von Rainer Werner Fassbinder
«Das enteignete Bewusstsein»
von Peter Stamm
Helmut Salomon, Staudammstatiker, liest «Das enteignete Bewusstsein». Er sagt: «Wenn man’s versteht, ist es interessant.» Er versteht es. Er versteht überhaupt alles. Seine Frau Martha versteht nichts. Er versucht sie zu erziehen, ihr all das beizubringen, was sie nicht weiss. Er bringt ihr die Bücher mit nach Hause, die sie zu lesen hat, schenkt ihr die Musik, die sie hören soll. Wenn Martha sich eine neue Frisur machen lässt, lacht ihr Mann sie aus, wenn sie kocht, mag er ihr Essen nicht, wenn sie eine Katze kauft, bringt er das Tier um, wenn er mit ihr schläft, misshandelt er sie. Helmut kündigt Marthas Stelle ohne ihr Einveständnis, er lässt das Telefon im Haus abmontieren. Am liebsten hätte er, wenn Martha das Haus gar nicht mehr verliesse. Helmut Salomon ist ein Sadist.
Vor zweiundzwanzig Jahren hat Rainer Werner Fassbinder «Martha» gedreht, vor zwölf Jahren ist der Regisseur gestorben. Dass der Film nicht früher in die Kinos kam, hat mit seiner verblüffende Ähnlichkeit mit einer Kurzgeschichte von Cornell Woolrich, dem Autor der Vorlage zu Hitchocks «Rear Window» zu tun. Fassbinder bestritt, vom Woolrich abgeschrieben zu haben, und es kam zu endlosen, urheberrechtlichen Streitereien. Der Regisseur starb, der Autor starb, und schliesslich wurden der Konflikt beigelegt. Jetzt kommt der Film ins Kino.
Martha hat es schon vor ihrer Ehe nicht leicht. Ihr wohlhabender Vater stirbt auf einer Italienreise mit seiner Tochter. «Bitte, fass mich nicht an», sind seine letzten Worte. Die Mutter, eine heimliche Trinkerin, macht ihre Tochter für den Tod des Vaters verantwortlich, nennt sie eine «widerliche, alte Jungfer». Und Dr. Salomon demütigt die junge Frau schon bei ihrem zweiten Treffen: «Sie sind weder attraktiv noch reizvoll. Ihr Körper wirkt, wie wenn er schlecht riechen würde.» Später zwingt er Martha zu einer Fahrt auf der Achterbahn, sieht zu wie sie sich übergibt und macht ihr anschliessend einen Heiratsantrag. Helmut liebt Martha, wenn sie leidet.
«Danke, danke, danke», sagt Martha, als Helmut sie um ihre Hand bittet, «sie wissen nicht, wie sehr ich auf diese Frage gewartet habe.» Ihr Glück währt nicht lange. Schon auf der Hochzeitsreise wird sie gequält. «Wehr dich nie wieder gegen mich, wenn ich dich lieb haben will», sagt Helmut. Und statt sich zu wehren, wird Martha von ihrem Mann immer wieder dazu gebracht, ihm zu vergeben, ja, sich selbst schuldig zu fühlen. «Die meisten Männer können nur nicht so perfekt unterdrücken, wie die Frauen es gerne hätten», hat Fassbinder einst in einem Interview gesagt. Helmut weiss, wie er Martha unterdrücken kann.
«Martha» ist auf den ersten Blick ein einfühlsamer, ein bewegender Film über die Einsamkeit einer misshandelten Frau. Er ist es dank Margit Carstensen, die Martha spielt, und die es geschafft hat, Fassbinders Ansichten über die Hauptfigur zu überspielen. Die Aussage, die der Regisseur beabsichtigte, hat er mit seinem Film glücklicherweise nicht machen können. Seine schrecklichen und schrecklich falschen Meinungen über Frauen sind im Film kaum zu spüren, höchstens im kranken Statiker Helmut, der für den Regisseur stehen könnte. «Frauen die sich unterdrücken lassen», hat Fassbinder gesagt, «sehen oft schöner aus als Frauen, die sich wehren.» Martha ist für ihn eine Masochistin: «ganz so, wie es in allen anderen Frauen auch drin ist.» Sie ist «auf der Welt um einsam zu sein oder um sich unterdrücken zu lassen.»
Die masochistische Frau ist eine Lieblingsvorstellung vieler Männer, insbesondere jener Männer, die sich den Frauen unterlegen fühlen. Im Grunde ist «Martha» nichts anderes als die perverse Männerphantasie von der schwachen Frau, die gequält werden kann, die dem starken Mann ausgeliefert ist. Helmut, der subtile Quäler, ist eine faschistoide Figur, ein totalitärer Herrscher, der seine Frau nach eigenem Gutdünken quälen oder belohnen kann. Die opulente Kulisse der üppige Herrschaftshäusern, der barocken Konstanzer Bibliothek, der romantischen Landschaften, geben dem Film die perverse Schönheit des Toten, wie sie schon in der schwarzen Romantik gefeiert wurde, wie sie überhaupt immer wieder in der deutschen Kunst auftaucht. «Martha» ist ein zutiefst deutscher Film.
Als Martha am Schluss des Filmes durch eine Querschnittlähmung ganz in die Gewalt ihres Mannes kommt, als klar wird, dass sie nie wieder gesund werden wird, sagt ihr Arzt: «Wo Gott entschieden hat, da kann der Mensch nichts ändern.» Gott ist im Falle dieses Filmes Fassbinder. Er glaubt, seine Hauptdarstellerin habe damit «die grösste masochistische Erfüllung, nicht mehr lebensfähig zu sein» erreicht. In Wirklichkeit hat nur der Regisseur sich selbst entblösst, seine eigene, gestörte Beziehung zu den Frauen. Wenn Martha trotz aller Quälereien sagt: «Ich bin glücklich – natürlich!», so ist das nicht ein Ausdruck ihres Masochismus, sondern der verzweifelte Versuch, sich selbst in einer unerträglichen Situation einen letzten Rest von Selbstbestimmung zu erhalten.
Nebelspalter, 6.6.95
Weiteres zum Thema Film:
SitCom
Piz Gloria
Agnes
Filmkritiken