Zürich, 1999

Edition Patrick Frey, 2000

Endstation Zürich

«And all was useless that I thought I learned:
Maps are of place, not time, nor can they say
The surprising height and colour of a building,
Nor where the groups of people bar the way.»

Henry Reed, A Map of Verona

Immer fährt man auf die Endstationen zu, selten erreicht man sie. Farbhof, Rehalp, Frankental, wenig Gründe gibt es, bis ans Ende zu fahren. Ein Ende, das keines ist. Die Tramführer fahren immer vorwärts, fast ohne es zu merken, werden sie in sanften Kreisen gewendet an den Endstationen, die ebensogut Anfangsstationen heissen könnten. Nur manchmal verweilen sie dort etwas länger als an den anderen Haltestellen. Kurze Aufenthalte an Zürichs Peripherie:

Mittwoch, 20. Oktober 1999

Tiefenbrunnen, 09.11 — 09.19 Uhr
Hier endet nichts. Schon bevor das Tram hält, wendet es sich wieder der Stadt zu. Und wer aussteigt verweilt nicht, eilt weiter, mit Bus oder Zug. Ein Jogger rennt vorbei, der dicht befahrenen Strasse entlang. Ein Schiff zieht gegen die Stadt. Der Himmel ist grau, die Luft riecht nach Winter.
«Wenn es so ist, ist es nichts», sagt die Kioskverkäuferin und reicht der Frau ihren Lottoschein zurück.
«Jeder Griff ein Hit», verspricht das Gestell mit den neusten Bestsellern: «Heiraten macht mich nervös» auf Platz eins, auf Platz drei «Ich weiss nichts von Dir».
Ein Plakat: «Je suis l’autre». Alles zeigt weg von hier.

Unterwegs ein Schaufenster mit Elektrogeräten. Alles ist bereit. Jetzt sieht man wieder Menschen mit Wollmützen. Ein Mann frühstückt Bier aus der Dose. Das Restaurant Burgwies teilt mit: Temperatur sechs Grad Celsius. Beim Balgrist leert sich das Tram, hier wird es sich später wieder füllen.

Rehalp 09.38 — 09.47 Uhr
Das Tram dreht sich im Kreis um eine kleine Wiese. Darauf ein Gartenhaus, eingezäunt, mit grünweisser Fahne und Stiefmütterchen vor den Fenstern. Eine kleine Salatplantage, ein Tisch um einen Birkenstrunk gebaut, tiefrote Malven.
Ein Wegweiser zu Alterssiedlung und Altersheim. Jenseits der Strasse hässliche Skulpturen, die an Seepferdchen erinnern, an Vögel. Die an nichts erinnern, nur hässlich dastehen und für sich. Der Tramführer sammelt die liegengebliebenen Zeitungen ein, bevor er weiterfährt, zurück.

Unterwegs ein Geschäft, «L’Idea», voll mit altem Plunder.

Kreuzplatz 10.03 — 10.06 Uhr
«Am Tag X kommt nixx», ein Plakat. Die matte Bitterkeit des Automatenkaffees. Magengeschwüre, kürzlich in der Zeitung, werden von den Ärzten oft falsch behandelt.
Auf dem Kaffeeautomaten die rätselhafte Inschrift: «Ra Raja rollt mit (Nimmel) Raja hat gesagt oh».
Toiletten im Untergeschoss. Ein hässlicher Brunnen. Ein Tramchauffeur raucht schnell eine Zigarette. Kein schöner Platz in dieser Zeit.

Unterwegs überall Schweinefleisch-Aktionen. Es muss unter den Schweinen dieses Landes ein Massaker stattgefunden haben.

Zoo 10.30 — 10.38 Uhr
Die Nahe Aussicht ist zu spüren, als erfülle sie die Luft. Wanderwege in alle Richtungen, nur noch zwei Kilometer bis zur nächsten Feuerstelle der Schweizer Familie. Schreie von wattierten Kindern auf dem Weg ins Tiergefängnis.
Vierhundert Parkplätze. In der Telefonzelle täuscht sphärische Musik. Als der Buschauffeur die WC-Tür öffnet, ein schneller Blick auf jenes geheimnisvolle «Trockenpissoir Ernst», das auch in Zivilschutzanlagen und Armeebunkern zu finden ist und mit «Urinol» gefüttert werden will.
Das Tramhäuschen wird eben neu gestrichen, und auch ein Plakat kündet von neuem Leben: «Der Tod ist die Folge der Sünde — die Gabe Gottes ist das ewige Leben durch Jesus Christus.» Die Platanen haben ihr Laub schon fast verloren.

Unterwegs ein Plakat: «Warum das ewige Leben verpassen?» Sind wir nicht mittendrin im ewigen Leben? Im Tunnel. Ein Schild träumt: «Waldgarten». Ein behinderter Mann ringt die Hände, endlos.
In Schwamendingen sind die Strassen belebt. Frauen beim Einkaufen, spielende Kinder, Hunde.

Hirzenbach 11.06 — 11.10 Uhr
Rundum eingezäuntes Grün. Durch die Bäume hindurch erahnt man Wohnblocks. Eine Starkstromleitung. Von Fern der Lärm der Autobahn. Ein langer, gerader Weg verschwindet zwischen den Bäumen. Ein Schild «Privat». Und wieder Toiletten, immer Toiletten an den Endstationen. Im Tramkreis Schrebergärten, von hohen Hecken umgeben, vor den Blicken geschützt.
Es ist kaum noch Stadt hier und doch nicht Land. Diese seltsamen, besiedelten Zonen. Und wie immer an Orten, an denen ich noch nie gewesen bin: das Staunen, dass auch hier Menschen leben, wie selbstverständlich, dass es auch hier ein Coop Super Center gibt.

Die Haltestellen unterwegs sind wie Texte, für die man immer neue Titel findet und die man doch nie schreibt. Nur das Frieren bleibt sich gleich.

Seebach 11.40 — 11.45 Uhr
An Seebach erinnere ich mich. Das war auch im Herbst. Und der Garten war schön und es gab Trauben und eine Hoffnung und später einen Streit.
Eine Durchsage der Züri-Linie: Kollision in der Irchelstrasse.
Wegweiser zum Schwimmbad, ein Hotel, ein fast leerer Fahrradständer, ein frisch bepflanztes Blumenbeet. Ein bisschen Platz hier, und wie an vielen Endstationen: alte Leute. Vielleicht suchen sie den Rand der Welt.
Eine alte Frau in farblosem Mantel, mit farblosem Haar und Stock trägt eine Tasche mit grellbuntem Muster vorbei. Stiefmütterchen wieder.
«Ich lasse niemanden stehen und alle fahren», ein Bus der Züri Linie. Alles fahren lassen.

Unterwegs im Bus telefoniert eine Frau, schlägt vor, das Mittagessen im Dampfkochtopf zu machen. Und dann sagt sie: «Es ist gut. Ich erzähle es dir dann. Danke, tschüss, tschüss, danke». Was ist gut? Und die Ahnung, dass sie Verkäuferin ist. Schon früher die Beobachtung, dass Verkäuferinnen sich — auch wenn sie nicht verkaufen — viel häufiger bedanken als andere Leute.

Frankental 12.23 — 12.33 Uhr
Wieder ein Altersheim, eine dichtbefahrene Strasse, ein sehr hässlicher Brunnen und ein Betonmonster mit Säulen. Darin ein Kiosk, Telefonkabine, Toiletten und eine Tür mit der Aufschrift «VBZ Stand».
Am Kiosk: «Nostradamus entschlüsselt. Alles, was er sah, ist eingetroffen».
Ein alter Mann mit Tirolerhut nestelt mit nervösen Händen eine ganze Packung Kirschpralinen aus den Papierchen und schlingt sie herunter und verschwindet. «Mon Chéri».
«Verkaufte Illusionen» von Rita Dolder und Claudia Weiss Gerber gibt es hier zu kaufen. Zwei von drei Schaukästen sind leer und für Fr. 500 im Jahr zu mieten. Im Restaurant bestellt ein kleiner Mann einen «Early Grey Tee».

Unterwegs immer das unsinnige Gefühl, dass die Trams in den Aussenquartieren weniger häufig verkehren, als in der Innenstadt Als vergehe die Zeit hier langsamer.

Werdhölzli, 12.40 — 12.47 Uhr
Zwischen Kläranlage und Autobahn Zementröhren, bemalt mit badenden Menschen, Fischen, Blumen. Ein Pfeil, «Vertigo». Hinter einem hohen Gitterzaun eine bepflanzte Wäscheschleuder, Ziegen und ein Spielplatz. Artgerechte Haltung. «Bitte nur hartes Brot füttern. Weiches Brot macht die Geissen krank. Danke.»
Männer in orangen Kleidern, einer pfeifft, kommen aus einer gelben Firma: Walo Bertschinger AG. Müsste ich eine Strasse bauen, eine Firma mit einem solchen Namen würde ich suchen. Sortierte Steine. Was ist «Wandkies»?
Der Schokoladenautomat ist ausser Betrieb. Dennoch könnte ich hier wohnen, wo Zürich offen ist gegen Westen. Sogar die Sonne bricht jetzt durch den Dunst.

Unterwegs ein Weinflaschensammler mit «Fallbremse». Schön. Und zwei alte Frauen, die sich über Luft unterhalten. «Ich war heute in der Abdankungshalle», sagt eine, «Es wurde mir fast schlecht. Da wird wahrscheinlich nie gelüftet. Furchtbar.» Warum empört mich diese Bemerkung?

Farbhof, 13.13 — 13.20 Uhr
Am Anschlagbrett «Das neue Waffenrecht» und die Polizei, die Menschen sucht. «Mehr als nur ein ‹Job’». Tonband: 01 211 04 00. «50 Jahre Tansini» stellt falsches Haar und Plastikbrüste aus für Teilzeit-Transvestiten. Und auch hier wird mit der Bibel geworben: 2. Kor. 5,17.
Der «Farbhof-Beck» und «Rosa-Imbiss» teilen sich ein Dach. Der Wendekreis ist schlicht bebaut, bescheiden schön.
Jemand hat sich Sorgen gemacht und mit krakeliger Schrift an die Wand geschrieben, es drohe «Seuchengefahr von unbekannter Grösse». Der Himmel hat sich wieder bedeckt.

Albisrieden, 13.30 — 13.37 Uhr
Nebel zieht durch den Wald am Üetliberg. Ein richtiger Berg, kein «Gmüetliberg», wie einige Fehlgeleitete meinen.
Es ist ein wirkliches Dorf, «Dörfli» heisst eine Station. Eine Kuh würde hier weniger erstaunen als das Tram. Im Rund ein schöner Garten, Kohlköpfe, Löwenzahn, Reben, ein Feigenbaum und auch Blumen. Ein Mann der arbeitet.
«Die Generation, die schamlos an den Boden spuckt», hat jemand an eine Wand gesprüht.

Triemli, 13.41 — 13.49 Uhr
Eine Erinnerung. Sylvester im obersten Stock des Schwesternheimes. Die Stadt war schneebedeckt, und wir standen draussen auf der Terrasse und schauten hinunter auf den See.
Ein Fahrlehrer wartet auf einen Schüler oder eine Schülerin. Eine Frau lehnt am Kaffeeautomaten, wie erstarrt. Mitteilungen fallen mir ein, wie sie in Spitälern gemacht werden. Nach einem Schirmbild oder einer Blutuntersuchung. Ich will nicht daran denken.
Die Station wie ein Schiff. Der Brunnen ist fast schön jetzt, wo welkes Laub im Wasser schwimmt. Es ist keine gute Idee, Pappeln neben Spitäler zu pflanzen.

«Geniessen sie den Ausblick doppelt», unterwegs, «MS-Betroffene leiden unter Sehstörungen.» Zwei Kinder zählen. Fünfunddreissig, sechsunddreissig, siebenunddreissig. «Dort ist noch etwas», sagt das eine. «Wir müssen hundert Sachen haben», das andere. Eine bleiche Sonne zeigt sich am Himmel.

Albisgüetli, 14.06 — 14.15 Uhr
Hier ist man der Natur am nächsten. Wald und Berg und ein Schützenhaus mit einem blöden — Verkleinerung liegt in der Luft — Türmchen. Das Tramhäuschen ist geschlossen. Hinter dem Gitter wartet ein Kinderwagen. Darin eine Wäschezeine mit schmutzigen Plüschtieren. Ein blauer Elefant.
«Freundschaft mit Raubtieren», auf der Wiese unter dem Schützenhaus. «René Stricklers grosse Raubtier-Show». Laura will die Raubtiere sehen. Der Vater sagt: «Wir können nicht alles an einem Tag machen.»

Unterwegs das Wort «Gaggalari» von einer sehr alten Frau. Sie spricht unentwegt mit einer Freundin. «Kopf abschneiden», sagt sie einmal, und «sie sind in mein Zimmer gekommen. Das dürfen sie nicht.» Billettkontrolle.

Wollishofen, 14.32 — 14.44 Uhr
Als habe er mich erwartet, steht Hans, ein alter Kollege, an der letzten Endstation. Gestern hat er im Rondell eine Gruppe von Safranschirmlingen entdeckt. Jetzt sind sie weg. Nur zwei Pilze stehen noch unter einem Farn. Am besten sind sie paniert und in der Pfanne gebraten.
«Achtung! Keine Wagen ohne Bedienung stehen lassen», warnt ein Schild die Tramführer.
Was gibt es über Wollishofen zu sagen, Hans? Nicht viel. Wenn man ihr nahe ist, sieht man die Endstation nicht mehr als Endstation. Dann führen die Wege weiter.

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