Erzählungen, 1999, Arche-Verlag,
Zürich und Hamburg
Rheingau Literaturpreis 2000
Ausserdem erschienen in:
Frankreich, England, Spanien, Israel, Italien, Holland, Serbien, Slovenien, Polen, Brasilien, Portugal, Russland, Bulgarien, Korea, Litauen, Georgien, Slovakei, Tschechien, Dänemark, China, Norwegen, Estland, Iran
Das schönste Mädchen
Nach fünf milden und sonnigen Tagen auf der Insel zogen Wolken auf. In der Nacht regnete es, und am nächsten Morgen war es zehn Grad kälter. Ich ging über den Rif, eine riesige Sandebene im Südwesten, die nicht mehr Land und noch nicht Meer ist. Ich konnte nicht sehen, wo das Wasser begann, aber es war mir, als sähe ich die Krümmung der Erde. Manchmal kreuzte ich die Spur eines anderen Wanderers. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Nur hier und da lag ein Haufen Tang oder ragte ein schwarzer, vom Meerwasser zerfressener Holzpfahl aus dem Boden. Irgendwo hatte jemand mit bloßen Füßen ein Wort in den feuchten Sand gestampft. Ich ging um die Schrift herum und las «ALIEN». In der Ferne hörte ich das Fährschiff, das in einer halben Stunde anlegen würde. Es war mir, als hörte ich das monotone Vibrieren mit meinem ganzen Körper. Dann begann es zu regnen, leicht und unsichtbar, ein Sprühregen, der sich wie eine Wolke um mich legte. Ich kehrte um und ging zurück.
Ich war der einzige Gast in der Pension. Wyb Jan saß mit Anneke, seiner Freundin, in der Stube und trank Tee. Der Raum war voller Schiffsmodelle, Wyb Jans Vater war Kapitän gewesen. Anneke fragte, ob ich eine Tasse Tee mit ihnen trinken wolle. Ich erzählte ihnen von der Schrift im Sand.
«Alien», sagte ich, «genauso habe ich mich gefühlt auf dem Rif. Fremd, als habe die Erde mich abgestoßen.»
Wyb Jan lachte, und Anneke sagte: «Alien ist ein holländischer Frauenname. Alien Post ist das schönste Mädchen der Insel.»
«Du bist das schönste Mädchen der Insel», sagte Wyb Jan zu Anneke und küßte sie. Dann klopfte er mir auf die Schulter und sagte: «Bei diesem Wetter ist es besser, zu Hause zu bleiben. Draußen verliert man leicht den Verstand.»
Er ging in die Küche, um eine Tasse für mich zu holen. Als er zurückkam, machte er Licht und sagte: «Ich werde dir einen Elektroofen ins Zimmer stellen.»
«Ich möchte wissen, wer das geschrieben hat», sagte Anneke. «Meinst du Alien hat endlich einen Freund gefunden?»
(…)
Weitere Leseproben:
Agnes
Blitzeis
Ungefähre Landschaft
In fremden Gärten
An einem Tag wie diesem
Wir fliegen
Heidi
Sieben Jahre
Seerücken
Nacht ist der Tag
Die Vertreibung aus dem Paradies
Weit über das Land
Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt
Marcia aus Vermont
Wenn es dunkel wird