Das Archiv der Gefühle

Roman, 192 Seiten, S. Fischer Verlag, Frankfurt, 2021

(…)

Ich habe das Haus den Winter über kaum verlassen, eigentlich habe ich es seit Jahren immer seltener verlassen, seit mir die Stelle gekündigt wurde, seit der Trennung von Anita, die keine wirkliche Trennung war. Ich habe Anita aufgegeben wie so vieles in den vergangenen Jahren, und damit vielleicht meine letzte Chance, ein normales Leben zu führen, ein Leben, wie es von einem erwartet wird. Aber niemand erwartet noch etwas von mir, ich selbst am allerwenigsten, und so habe ich mich nach und nach immer mehr zurückgezogen. An manchen Tagen bin ich nur im Freien, wenn ich zum Briefkasten gehe oder in den Garten, um frische Luft zu schnappen. Ein- oder zweimal die Woche kaufe ich im kleinen Lebensmittelgeschäft hier im Viertel ein, kurz vor Ladenschluss, wenn selten andere Kunden da sind. Dort beschaffe ich mir das Wenige, was ich brauche, und bin jedes Mal dankbar, wenn der Ladenbesitzer mich grüßt, als sehe er mich zum ersten Mal. Was ich im Laden nicht kriege, bestelle ich aus Katalogen oder im Internet, ich liebe die menschenleere zweidimensionale Welt der Onlineshops, die sterilen Produktbilder auf weißem Grund, Vorderansicht, Rückansicht, Seitenansicht, Zubehör, technische Daten, ihr Einkaufswagen.

Ich gehe zur Bank, wenn mir das Bargeld ausgeht, zum Friseur, wenn meine Haare sich gar nicht mehr bändigen lassen. Wann ich zum letzten Mal bei einem Arzt war, weiß ich nicht, aber es ist lange her.

Die meiste Zeit verbringe ich damit, die Zeitungen und Zeitschriften durchzuarbeiten, die ich abonniert habe, die relevanten Artikel auszuschneiden und aufzukleben, zu codieren und in die entsprechenden Akten einzuordnen, die Arbeit, für die ich früher bezahlt wurde und die ich seit meiner Entlassung für mich alleine weiterführe, weil ich nicht wusste, wie ich sonst meine Zeit verbringen sollte. Auch wenn alle sagen, das Archiv werde nicht mehr gebraucht, es sei ein Anachronismus in Zeiten der Datenbanken und der Volltextsuche. Warum taten sich meine Chefs dann so schwer damit, mir das Archiv zu überlassen? Die Entscheidung, alles wegzuwerfen, war schnell getroffen von irgendeinem Geschäftsleitungsmitglied, einem jener dynamischen Typen, die Leute wie ich nur bei der jährlichen Weihnachtsfeier aus der Ferne zu sehen bekamen. Aber als ich vorschlug, das ganze Archiv inklusive des fahrbaren Regalsystems zu übernehmen und in meinem Keller unterzubringen, wurde die Geschäftsleitung misstrauisch und rang wochenlang mit der Entscheidung. 

Diese Leute haben den wahren Zweck des Archivs nie begriffen, sie haben nur die Kosten gesehen und sie durch die Anzahl der Rechercheaufträge geteilt und gemerkt, dass es sich nicht auszahlt. Aber was zahlt sich schon aus? Das Archiv verweist nicht nur auf die Welt, es ist ein Abbild der Welt, eine Welt für sich. Und im Gegensatz zur realen Welt hat es eine Ordnung, alles hat seinen festgelegten Platz und kann mit etwas Übung jederzeit schnell gefunden werden. Das ist der wahre Zweck des Archivs. Da zu sein und Ordnung zu schaffen.

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