Roman
Sie drückte auf schnellen Vorlauf. Das Signet der Sendung war zu sehen, eine kurze Zusammenfassung der Themen, zerrissene Gesichter, die stumm den Mund bewegten, lächelten, ein Gemälde, Balletttänzerinnen. Jetzt sah man das Studio, ein weißer Raum oder eher eine weiße Fläche, im Hintergrund Gillian, die im Weiß zu schweben schien. Die Kamera bewegte sich rasend schnell auf sie zu. Sie schaltete auf normale Geschwindigkeit und, als die Kamera ganz nah war, auf Standbild. Da war ihr altes Gesicht, der Mund zur Begrüßung geöffnet, weit aufgerissene Augen. Gillian drückte auf einen Knopf, sprang weiter von Bild zu Bild. Der Mund schloss sich und öffnete sich wieder, aber der Ausdruck in den Augen blieb derselbe.
Sie war vor den Sendungen nie nervös gewesen und war erstaunt über den ängstlichen Blick. Es war ihr, als ahne dieses Gesicht schon seine Zerstörung. Ein unerwartetes Geräusch, ein Lichtreflex, eine plötzliche Erinnerung veränderten den Ausdruck, die Kameras erschufen für den Bruchteil einer Sekunde einen Menschen, den es nie gegeben hatte und nie mehr geben würde. Fünfundzwanzig Bilder in der Sekunde, fünfundzwanzig Menschen, die nicht viel mehr gemeinsam hatten als die Personalien, die Haar- und Augenfarbe, die Größe und das Gewicht. Erst in der Aneinanderreihung der Bilder entstand die Unschärfe, die einen Menschen ausmachte.
Sie drückte auf Play und legte sich wieder auf den Rücken. Sie hörte ihre Stimme, vielversprechender junger Künstler, erste eigene Ausstellung, Rückkehr des Figürlichen. Gillian drehte den Kopf zum Fernseher und sah sich den Filmbeitrag ansagen. Um neunzig Grad gedreht sah ihr Gesicht schmaler und jünger aus. Es wirkte fremd, vielleicht sah sie deshalb viel deutlicher die einzelnen Züge, die Lippen, das Grübchen im Kinn, die Nase, die Augenpartie. Sie dachte an Tanja, die sie nie geschminkt hatte, ohne irgendeine Bemerkung über ihr Äußeres zu machen, über ihre zu breiten Augenbrauen, ihre schmalen Lippen oder ihren Teint. Ihre Problemzonen, wie sie es nannte.
Die Frau im Fernseher schwieg, und ihr Gesicht nahm einen gespannten Ausdruck an für einen Moment, der Gillian unendlich lange erschien. Dann endlich begann der Filmbeitrag. Die Kamera schwenkte durch einen Ausstellungsraum, man sah lebensgroße Bilder nackter Frauen, die sich wuschen, sich an- oder auszogen oder Hausarbeiten machten. Obwohl die Posen alltäglich waren, wirkten sie fast klassisch. Dann war Huberts Gesicht in Großaufnahme zu sehen, und sein Name wurde eingeblendet, Hubert Amrhein, und in Klammern sein Alter, neununddreißig, genauso alt wie sie.
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