Wir fliegen

Erzählungen, 2008, S. Fischer Verlag, Frankfurt

Ausserdem erschienen in:

Frankreich, Türkei, Spanien, U.S.A.

(…)
Ich trinke mein Glas leer, obwohl ich Likör eigentlich nicht mag. Auch er macht beim Trinken ein Gesicht, als sei er starke Getränke nicht gewohnt. Ich hatte Besuch, sage ich, zwei Arbeitskolleginnen und ihre Männer. Wir treffen uns immer am ersten Freitag des Monats. Ich weiß nicht, weshalb ich ihm das erzähle. Es gibt nichts weiter dazu zu sagen. Er sagt, der Januar sei sein liebster Monat. Er hat Geburtstag im Januar, in zwei Wochen. Und er mag die Kälte.
– Was ist Ihr Lieblingsmonat?
– Darüber habe ich nie nachgedacht. November hasse ich.
Er hat einen Lieblingsmonat, eine Lieblingsjahreszeit, eine Lieblingsblume, ein Lieblingstier, ein Lieblingsbuch und so weiter. Sonst erzählt er nichts von sich. Ich glaube, er hat einfach nichts zu erzählen. Wie meine Kinder. Wenn ich sie frage, was habt ihr in den Ferien gemacht, sagen sie, gespielt. Er ist wirklich wie ein Kind. Er ist fröhlich und hilflos und manchmal scheu. Er wirkt immer etwas erstaunt. Und er lacht viel. Er fragt, ob ich Kinder mag. Natürlich, sage ich, das ist mein Beruf.
– Das muss nichts heißen. Man kann Schlachter sein und trotzdem Tiere mögen.
– Ich mag sie aber. Deshalb bin ich Kindergärtnerin geworden.
Er entschuldigt sich mit erschrockenem Gesicht, als habe er etwas Schreckliches gesagt. Er schenkt nach. Mir nicht mehr, sage ich und trinke dann doch.
– Ich sollte nicht so neugierig sein.
– Nein, das solltest Du wirklich nicht.
Ich muss klingen wie eine Kindergartentante. Dabei bin ich jetzt schon süchtig nach seiner Neugier, nach seinem fragenden Blick, der den banalsten Sachen eine Bedeutung gibt. Manchmal sagt er lange nichts und schaut mich nur an und lächelt. Als er fragt, ob ich einen Freund habe, werde ich ärgerlich. Nur weil ich nicht mit einem Mann zusammen lebe, heißt das noch nicht… Er schaut mich mit großen Augen an. Ich weiß nicht, was ich sagen soll, und meine Unsicherheit ärgert mich noch mehr.
– Jetzt sind Sie mir böse.
– Nein, ich bin nicht böse.
So geht das weiter. Wir trinken und reden über Gott und die Welt, über mich, nur nicht über ihn. Er fordert mich heraus, aber ich glaube, er tut es nicht mit Absicht. Er starrt auf meine Beine, bis ich merke, dass sich mein Morgenrock etwas geöffnet hat und meine Oberschenkel zu sehen sind. Ich raffe den Rock zusammen, und Patrick schaut mich an, als habe ich ihn bei etwas Verbotenem erwischt. Ich bin ziemlich betrunken. Jetzt könnte er alles mit mir machen, denke ich und schäme mich sofort für den Gedanken. Er ist so jung, ich könnte seine Mutter sein.
(…)

Aus: «Die Erwartung»

Weitere Leseproben:

Agnes
Blitzeis
Ungefähre Landschaft
In fremden Gärten 
An einem Tag wie diesem
Wir fliegen
Heidi
Sieben Jahre
Seerücken
Nacht ist der Tag
Die Vertreibung aus dem Paradies
Weit über das Land
Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt
Marcia aus Vermont
Wenn es dunkel wird
Das Archiv der Gefühle
In einer dunkelblauen Stunde