Ufer nur sind wir

Lyrisches Suchbild

Zur Strafe zehnmal: «Viele Grüsse aus der schönen Camargue».
Wolken, seit Tagen. Weisse Liegestühle, abwartend, wie alarmierte Schwäne. Der Sommer war nicht gross. Südlichere Tage suchend kamen wir hierher. Dann: Wolken, Gummibälle, Friteusenduft.
An einer Dornenhecke zertritt ein Kind: «Irgend so eine Schnecke» (nur so, nicht einmal um des Reimes willen). Kinder überhaupt!
Nachts, über der Bucht, La Grande Motte (frei: Der Grosse Butterklumpen). Dort! Irgendwo soll es auch einen Leuchtturm geben. Und Strand; und Meer.
O springen möcht› ich hinein alsbald.
«Gebreten Hühn» oder «Huhnchen vom Grill». Pizzas. «Baguette, Jeannette». Zeitungen nur sommers. Hin und her gehen Kinder, Eltern, Halbwüchsige: zum Grill, zum Strand, zur Animation (Wiederbelebung), zum Pool 2 (Pool 1 bleibt in der Nachsaison seicht geschlossen, dito Aquarium und Vergnügungspark — nur ein Stier kämpft noch hier und da gegen die Langeweile der Lokalbevölkerung).
Und immer weht der Wind, und immer wieder
Vernehmen wir und reden viele Worte…
Die Residenz: 3 Pannen (1 Kochpanne, 1 Bratpanne, 1 Panne), 2 Aschenbecher und völlig enigmatisch: 1 Bettüberzisg gestkeift — mit Streifen rot und weiss bemalt.
Am Abend, am Meer, seufzen wir lang und bang. Es rühret uns so sehre… Nachts durchstreifen Kinder, mit Taschenlampen bewaffnet, das Piniendikicht im Inneren der Residenz, das Herz der Dunkelheit. Schreiend. Morgens (wir kämpfen noch, an den Rändern des Schlafs, um den Rest eines Traums): Kinder. Schreiend (Frühschicht). Alles jubelt froh…
Der Schrei, tausendverschieden: einziges Ausdrucksmittel des Kindes (meine Eltern versichern mir später glaubhaft, dass ich als Kind nur im äussersten Notfall geschrien habe). Im Hintergrund rauscht der Kühlschrank, bing, der Mikrowellenherd hat seine Pflicht getan. Und ewig singt der Gameboy. Oh stört sie nicht, die Feier der Natur.
Berner, vorwiegend. Nie so viele Berner gesehen. Berner links und rechts, oben und unten, im Okzident und im Orient. Schon Zürcher bringen Erleichterung (süsse, nie gekannte Gefühle).
Morgens reiht man sich ein in die Baguette-Karawane. Immer noch Wolken: Waschtag. «Fragen sie das Bügeleisen an der Réception». Im Waschküchendampf erste Ahnung südlicher Wärme.
Erst zehn und schon alle Tennisplätze besetzt (gratis im Oktober). Slapstick. Wie weit man geht, wenn man nichts zu bezahlen braucht. Ewiges Rätsel Mensch. Der Autofocus meiner Kamera versagt den Dienst. Künstliche Intelligenz. Nachmittags plötzlich unerwartet: Aufhellung! Hitze für uns. Kopfschüttelnd betrachten Südfranzosen in Daunenjacken unser weisses Fleisch. Erstes Bad in sturmgepeitschter See. Meine Arme dehnen sich zu weiten Flossen. Weit… weg…
Zwei gesalbte Zweihundertpfünderinnen durchpflügen die Gischt auf ihren Luftmatratzen wie Walrösser auf Eisschollen. Wir dagegen produzieren uns später mit Softball. Softball!
Blau und zitternd im Sand. Im Meer immer noch: Kinder (schreiend). Sie spüren die Kälte nicht. Kälte des Wassers, der Luft, Kälte dieser unendlichen Räume. Immune.
Raoul vermietet Surfbretter. Raoul ist Animateur. Ein schöner Beruf (zufällig wohl nur heisst Animateur auch Trickfilmzeichner). Ein Brett mieten und neben sich in den Sand legen.
Es wird dunkel, es wird hell. Ein neuer Tag. Wolken. Dennoch strandwärts mit: Buch, Brot, Badoit. Stille (und nur und immer Wind). Stille. Wachen, lesen, lange Briefe schreiben. Aber: Freue Dich, Du bleibst nicht einsam hier.
Drachen. Von schweren Vätern gehalten. Japsende Kinder springen stundenlang nach den Schwänzen, Mütter weiden sich am Bild. Troubadour-Erinnerungen: damals kämpfte man gegen Drachen. Wir, Spätgeborene, beissen in unsere Arme und spucken den bitteren Saft des Sonnenschutzmittels in den Sand.
Freitags dann leert sich die Residenz. Wir bleiben. Kurze Momente der Stille. Friede in den Hütten. Nur noch der Geruch ranzigen Speiseöls erinnert an die Entwichenen. Heute noch können wir leben in Gesellschaft des Winds.
Samstags kommen Neue (Berner, Kinder (schreiend)).
Der Ausflug ins Hinterland beweist: so schön könnte es sein. Arles, Avignon, sogar Nîmes, gelegentlich Montpellier. Platanen, Boules, Märkte. Sorbet de Passion.
Nachts erst zurück in den Bau. Wie verschönt warst von dem Monde du. Kurz ans Meer. Vor allem Wasser. Wind. Wind. Ufer nur sind wir.
Nach zehn Tagen erst (Kapitulation?): Ins Schicksal eingelassen wie die andern, beim Kreuzen einen Gruss in Erwägung ziehend, ohne zu lesen sitzend, Softball an Nachbarn ausleihend, Drachenflug bewundernd.
Denn aufs neue wieder Mensch zu werden,
Wenn man’s lange Zeit nicht mehr gewesen ist
das ist schwer…
Freitag. Reisetag. (Schon beim Abschied flüstert die Erinn’rung scheu:) «Schön war’s»

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