Eine unwahre Geschichte

Nächtliches Gespräch mit einem verachteten Menschen

frei nach Friedrich Dürrenmatt

Die Personen:
Hans Gmür
Der Narr

In einer stürmischen Novembernacht. Hans Gmür sitzt im Dunkeln an seinem Schreibtisch, zu Hause in Egg. Er hält den Kopf in die Hände gestützt. Ein Fenster knarrt.

Gmür: Kommen Sie bitte herein. Ich kann sie gegen den Himmel da draussen sehen. Er ist immer noch heller als die Finsternis dieses Zimmers. Ich mache Licht.

Es wird hell. Ein Mann klettert durch’s Fenster und setzt sich Gmür gegenüber in einen Lehnstuhl. Er trägt eine Narrenmütze und eine rote Pappnase mitten im Gesicht.

Gmür: So. Da sind sie. Ich habe sie erwartet. Ich habe sie mir anders vorgestellt… älter, würdiger…
Narr: Ebenbürtig?
Gmür: Vielleicht. Es ist leichter zu ertragen, wenn es einer tut, der einem ebenbürtig ist. Der wenigstens anständig angezogen ist.
Narr: In Ihren Kreisen müssen über das Einkommen der Satiriker die wildesten Gerüchte zirkulieren.
Gmür: Nein, nein. Ich weiss schon…ich habe auch so angefangen. Sie sind gekommen, um eine Satire über mich zu schreiben?
Narr: Ich habe diesen Auftrag.
Gmür: Sie machen es auf Bestellung?
Narr: Mein Beruf. Sie schreiben Bücher? Ihr Zimmer ist voll davon.
Gmür: Ich bin Doktor der Literatur. Ich habe über Grillparzer dissertiert.
Narr: Meinen Glückwunsch. Ein grosser Dramatiker. Wie er den Kampf des Menschen beschrieben hat zwischen den Ansprüchen der künstlerischen Sendung und denen der Zerstreuung und Eigensucht.
Gmür: Ja, ja…
Narr: …tut Verzicht
Auf alles was der blöde Erdenpöbel
Von Wahn betöret bis zum Himmel hebt…
Gmür: In Nichts versunken sind die stolzen Träume. Sie sehen, ich habe meine Wurzeln noch nicht ganz vergessen. Ich schreibe ja auch…gelegentlich…für’s Theater.
Narr: Ach wirklich? Wie interessant.
Gmür: Bibi Balù, zum Beispiel…
Narr: Das war von ihnen? (er singt) «Äm Mariooo, sind d’Träne chooo»
Gmür: (schluckt leer) oder Die Million im Ehebett oder Beidi wänd’s Heidi.
Narr: Zweifellos anspruchsvolle Werke. Schon die Titel. Dann sind sie also sozusagen in die Fussstapfen Grillparzers getreten.
Gmür: Es sind eher…heitere Stücke. Aber in einem gewissen Sinn geht es auch um die künstlerische Sendung. Ich habe, wo es ging, Aphorismen eingebaut über die Kunst. Zum Beispiel: «Gerade das Unkünstlerische, das Laienhafte ist doch bei uns ein Garant für einen vollen Erfolg.» oder über die Schweizer: «Bring ihnen das Gruseln bei, das haben sie gerne, vermischt mit Sex noch lieber» oder über Bibi Balù sage ich, sie habe eine natürliche Wildheit, die «vermischt mit Schweizerischem Serviertochter-Ethos genau die richtige exotisch rührende Mischung abgibt, auf die die Schweizer hereinfallen.»
Narr: Sie haben fürwahr die Tiefen der Kunst ausgelotet. Haben sie selbst diese natürliche Wildheit, den Serviertochter-Ethos?
Gmür: Ich bin Bündner…gelegentlich habe ich auch mit anderen bedeutenden Autoren zusammengearbeitet, zum Beispiel bei Hotel Happy End.
Narr: In gewissen Ländern scheint man der Meinung: drei Esel machten zusammen einen gescheiten Menschen aus.
Gmür: Habe ich das gesagt?
Narr: Nein. Grillparzer. In ihrem Werk geht es ja, wie in aller grossen Literatur, immer um die Grundfragen der Menschheit. Also um Sex und…ja vor allem um Sex und…um Geld?
Gmür: Nun ja, ich bin vielleicht kein grosser Dramatiker. Ich vergleiche mich lieber etwa mit Tucholsky.
Narr: Tucholsky war politisch.
Gmür: Ich bin auch politisch. Ich unterstütze die Alkoholwerbung, weil die Alkoholbranche mich unterstützt, ich unterstütze die Fair Play-Initiative der Glücksspielbetriebe, weil die Glücksspielbetriebe mich unterstützen.
Narr: Ich glaube Tucholsky war noch etwas politischer. Ausserdem hat er die Menschen geliebt. Wenn man dagegen ihre Kritiken liest, wird man das Gefühl nie los, sie ekelten sich vor der ganzen Welt. Und am meisten vor sich selbst.
Aber sprechen wir doch lieber von ihren humoristischen Stücken. Da können sie sich doch mit gutem Recht unter die ganz grossen Humoristen einreihen: Nöggi, Klibi, Globi, Ogi…
Gmür: Danke. Wir geben uns Mühe, die Sprache der Zuschauer zu sprechen.
Narr: Allerdings hat Grillparzer gesagt: Auf die Masse soll und muss jeder Dichter wirken, mit der Masse nie.
Gmür: Das ist nicht von mir…? Wir wollen die Zuschauer ablenken von ihren Sorgen.
Narr: Das fürchterlichste Mittel gegen quälende Gedanken ist die Zerstreuung, sie führt zur Gedankenlosigkeit.
Gmür: Ist das auch von…
Narr: Grillparzer.
Gmür: Nun, Grillparzer ist tot. Ein anderer grosser Geist, ein guter Freund von mir, Sepp Trütsch, sagt dagegen: Das Theater muss zu den Zuschauern gehen. Und die Zuschauer sind dort, wo die Bratwürste sind.
Narr: Beethoven sagte etwas ganz ähnliches: Solange der Österreicher noch braun’s Bier und Würstel hat, revoltiert er nicht.
Gmür: Ja, ja. Nichts Grosses ist wirklich neu…
Narr: …und nichts Neues wirklich gross. Wieder Grillparzer.
Gmür: Ach? Ich dachte, das war von mir. Ich vergesse manchmal, was von mir ist und was von anderen. Darf ich ihnen einen Martini rosé offerieren?
Narr: Die Getränke sind inbegriffen? Wie beim Bernhard-Apéro? Danke, aber erst für nachher. Vorher trinke ich nicht. Damit die Hand sicher bleibt.
Gmür: Natürlich. Waren sie beim Apéro?
Narr: Ja.
Gmür: Und? Sie verachten mich?
Der Narr spielt mit seinem Bleistift.
Gmür: Warum schweigen sie? (aufgebracht) Sie können mich hassen, aber sie können mich nicht verachten. Ich bin zu mächtig, sie sind zu unbedeutend. (ruhiger) Das Publikum liebt mich.
Narr: Ja.
Gmür: Es ist nicht einfach, lustig zu sein.
Narr: Es ist nicht einfach, sich dumm zu stellen. Wenn ein Dummkopf spricht wie ein Dummkopf, so ist das natürlich. Aber wenn ein Doktor der Literatur so spricht…
Gmür: Ich stelle mich nicht dumm. Ich bin so.
Narr: Was ist es, das den Menschen so umnachtet,
Und ihn entfremdet sich, dem eignen Selbst
Und fremdem dienstbar macht?
Gmür: Ist das von mir?
Narr: Von Grillparzer.
Gmür: (wütend) Niemand hat das Recht, mich zu verachten. Du am allerwenigsten. Niemand kann mich verachten. (leise) Niemand, ausser ich selbst…

Die zwei Männer sitzen sich schweigend gegenüber. Beide scheinen nachzudenken. Gmür trinkt einen Martini rosé nach dem anderen.

Gmür: Hast du meine Dissertation gelesen? Das Leben der grossen Mehrheit ist der Willkür des Augenblicks, der unheimlichen Gewalt der Leidenschaften unterworfen. Nur wenigen Auserwählten steht eine andere Daseinsmöglichkeit offen: Die Sammlung. In ihr allein hat der Mensch noch teil am Höheren, Göttlichen. Doch er bezahlt seine Auserwähltheit mit dem Verzicht auf menschliche Bindung, auf Freundschaft und Liebe. Er ist verbannt zum Abseitsstehen. Ich wollte nicht verzichten. Erst konnte ich es mir nicht leisten, danach kamen die Kinder, das Häuschen in Egg, der VW für meine Frau. Es war die Hölle. Und als ich endlich das Geld und die Zeit gehabt hätte, etwas Vernünftiges zu schreiben, da merkte ich…da merkte ich, dass ich Hörner bekommen hatte in dieser Hölle…und ich konnte nicht mehr zurück.
Narr: Sie haben doch gute Beziehungen zum Fernsehen und so. Könnten sie nicht für mich…
Gmür: Aber verstehst du denn nicht? So viel Grosses, so viel Schönes habe ich gekannt, und was habe ich selbst geschaffen? Beidi wänd’s Heidi…Und das ist noch nicht das Schlimmste! Ich habe Tutti Frutti auf die Bühne gebracht…mein Menschenbild: glatti Cheibe, tummi Cheibe. Mein Frauenbild: grossi Chabis, chlini Chabis
Narr: Prägnant.
Gmür: Primitiv. Verstehst du denn nicht: ich habe die Kunst verraten für meine Geilheit!
Narr: Ja, ich verstehe. Weil ich verstehe, bitte ich sie um ihre Hilfe. Ich möchte auch all diese Frauen kennenlernen, an Parties diese Ansagerinnen und Moderatorinnen treffen, sie in den Arm nehmen, sie anfassen. Wie sie, Herr Gmür.
Gmür: Nein! Nein, nein, nein. Ich habe die Kunst verraten und das Leben gewählt, weil ich geil war, weil ich besessen war wie du. Aber was noch viel schlimmer ist: ich habe auch das Leben verraten. Ich habe alle kennengelernt, aber ich war zu feige, so zu leben, wie ich es mir wünschte. Alles geschah nur in meiner Phantasie. Ich habe Blumensträusse und Küsse verteilt, habe hingefasst wo ich konnte. Aber alles andere war nur Wahn. Wille und Wahn.
Narr: Ich kann Witze erzählen. Passen sie auf: ein Ostfriese…
Gmür: Ich hätte mich nur von dieser Schmierenwelt befreien können, wenn ich sie beherrscht hätte. Aber ich habe zugelassen, dass sie mich beherrscht. Ich habe nur immer an diese Weibchen gedacht, an ihre kurzen, durchsichtigen Kleidchen. Sie haben meine Gedanken beherrscht, meinen Kopf verdreht und alles Schöne und Grosse verdrängt (er verbirgt das Gesicht in seinen Händen). Dies ist das schlimmste: die Kunst verraten und doch zu feige zu sein für das Leben. Was bleibt ist Geilheit. Unstillbare Sucht nach Befriedigung.
Narr: Show Business.
Gmür: Ja. Aber ich habe es gewusst. Dummheit könnte man verzeihen, Feigheit könnte man verzeihen, aber Dummheit und Feigheit was ergibt das? Tutti Frutti.
Narr: Herr Gmür, nur ein kleiner Auftrag, sie kennen doch so viele Leute…eine kleine Starthilfe.
Gmür: Verlange es nicht von mir. Mach dich nicht unglücklich. Bleib in deiner Dachbude. Bewahre dir deinen Glauben. Bleibe arm, meinetwegen erfolglos. Wehret den Anfängen. Danach ist es zu spät.
Glimmt noch ein Funke einer bessern Glut
In Eurer Brust, so facht ihn sorglich an,
Und tilgt durch Reue, mildert Eure Schuld.
Narr: Ist das von ihnen?
Gmür: Von Grillparzer. Ich bin des Gebrauches meiner edleren Sinne halb beraubt und zugleich so angegriffen im Kopfe, dass ich mich kaum mehr zur Literatur zählen kann. Aber du bist noch jung. Du hast deine Seele noch nicht verkauft.

Der Narr kniet vor Gmür nieder.

Narr: Ein winziger Auftrag. Ein Sketch, eine Glosse…
Gmür: (zornig) Nein!

Der Narr erhebt sich ernüchtert. Beide Männer schweigen verlegen. Der Narr geht unruhig hin und her. Gmür zieht ein altes Buch aus dem Gestell und öffnet es. Er liest mit leiser Stimme vor.

Gmür: Was ist der Erde Glück? — Ein Schatten!
Was ist der Erde Ruhm? — Ein Traum!
Du Armer! der von Schatten du geträumt!
Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.
Narr: Es wird schon hell…
Gmür: Wie gedenken sie die Tat zu vollbringen?
Narr: Lautlos.
Gmür: Werde ich zu leiden haben?
Narr: Nein.
Gmür: Darf ich mir vorher noch eine Zigarette anzünden.
Narr: Ja. Ich habe es nicht eilig.
Gmür: Rauchst du eine mit?
Narr: Ja. Danke. Ich kam im Zorn zu ihnen und nun stehe ich da, gedemütigt, lächerlich vor dem Lächerlichen.
Gmür: Allein mit mir in der Stille dieser Nacht. Auch ich wollte leben wie ein Held. Und nun bin ich mit dir allein. Aber es gibt ein anderes Leben.
Narr: So erzählen sie mir, wie man in unserer Zeit anders lebt denn ein Tier.
Gmür: Indem man demütig lebt, Narr.
Narr: (bitter) Die Weisheit ist ihrer würdig! Man soll in dieser Zeit nicht demütig sein! Diese Tugend ist heute unanständig geworden.
Gmür: Die Macht, Narr, die mir gegeben worden ist und die ich mit meinen Händen ausübe ist sinnlos, weil sie nichts ändert, sondern nur vernichtet, denn ein dummer Witz hat einen anderen zur Folge, immer wieder, immer aufs neue, wie die sinkenden Spiralen der Hölle! Versuche nicht diese Macht, bekämpfe sie. Aber bekämpfe sie nicht im Zorn. Sei demütig, denn auch du wärest ihr erlegen.
Narr: Wenn ich demütig bin, kann ich nicht mehr kämpfen.
Gmür: Das musst du auch nicht. Ich habe mich dir ergeben.
Narr: Ich wollte zu ihnen erhabene Dinge sagen. Nun haben sie zu mir einfache Dinge gesprochen.
Gmür: Sich selbst kennen ist bei einem selbst mittelmässigen Verstande nicht so schwer, als manche Leute sagen; aber im Leben dem gemäss handeln, was man von sich erkannt hat, ist schwer.
Narr: Von ihnen?
Gmür: Grillparzer. Lösch die Lampe, Narr. Der erste Strahl des Morgens soll deine Hand führen.
Narr: Wie sie es wünschen, Herr.
Gmür: Es ist gut. Ich habe nichts mehr zu sagen. Es ist soweit. Nimm jetzt die Feder.
Narr: Den Bleistift. Sind sie wohl?
Gmür: Sehr wohl. Stoss zu.

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