Neue Zürcher Zeitung, 16.1.1999
«Zu Hause habe ich noch Bilder aufgehängt in meinem Badezimmer. Von der Titanic. Da dachte ich erst, ich hätte mich überanstrengt. Mein Arm schlief plötzlich ein. Und dann schlief alles ein. Ich knallte mit dem Kopf gegen die Tür, aber das fühlte sich an wie Pappe. Alles wie Pappe. Ich hatte so ein stumpfes Gefühl. Dann kriegte ich einen Blutsturz. Das Blut kam raus wie wenn ich mich übergeben müsste. Ich versuchte gegen die Ohnmacht anzukämpfen. Habe gegen die Tür gebullert, aber niemand hat mich gehört. Dann konnte ich den Türgriff greifen und bin auf allen vieren aus der Wohnung gekrochen. Ich bin dann wieder abgesackt, aber vorher konnte ich noch um Hilfe rufen.»
Mit leiser Stimme erzählt Uwe Schnorfall, wie er ins Heidehaus gekommen ist, in diese Lungenklinik am Rand von Hannover, unmittelbar an der Autobahn zwischen Köln und Berlin. Während er spricht, lächelt er immer wieder entschuldigend, als sei er selbst schuld an seiner Krankheit. Uwe ist lungenkrank. Vor Jahren wurde ihm ein Drittel eines Lungenflügels entfernt, eben erholt er sich von der Entfernung eines weiteren Drittels. Aus seiner Brusthöhle führen zwei Schläuche Luft und Wundflüssigkeit in Flaschen ab. Seit sechs Wochen muss Uwe das kleine Drahtgestell mit den zwei Flaschen mit sich herumtragen. Das ist ihm peinlich. Als kürzlich der Weihnachtsbasar stattfand, ist Uwe nicht nach unten gegangen. «Ich habe mich geschämt. Erst wollte ich die Flaschen in eine Stofftüte tun, aber die Schläuche sieht man ja doch. Ich hab schon mitgekriegt, dass manche Besucher sich umdrehen, damit sie die Flaschen nicht sehen. Oder dass sie dauernd darauf starren.»
Uwe ist einer von knapp zweihundert Patienten, die im Heidehaus liegen, einer von zweieinhalbtausend, die jedes Jahr hier eingeliefert werden. Asthmatiker, Tuberkulosekranke, Gefässkranke, Patienten mit Emphysemen, Infektionen, mit chronischer Bronchitis und viele, sehr viele Lungenkrebspatienten. Zweihundert von ihnen sterben jedes Jahr in der Klinik.
Uwe kennt die Klinik. Er war schon zweiundzwanzig mal hier. «Ich war zum Geburtstag ein paarmal hier, auch zu Nikolaus. Nur Weihnachten gottseidank noch nie. Aber Weihnachten ist bestimmt auch schön hier.» Es klingt, als wolle er sich selbst überzeugen, diese Weihnachten wird er hier bleiben müssen. Ich treffe Uwe beim Singen in der Sitzecke der Abteilung 5. Es ist Anfang Dezember, und die Krankengymnastin Karen Klink singt mit den Patienten Weihnachtslieder. «Singen ist das beste Atemtraining», sagt sie. Weihnachtslieder sängen sie nur in der ersten Dezemberwoche. Danach stellten sie auf Frühlingslieder um, weil die Leute sonst weinen müssten. «Kein schöner Land», brüllt Karen den Gang hinunter, damit auch jene Patienten mitsingen können, die bettlägrig sind. Aus einigen Zimmern tönt es leise: «Dass wir uns hier in diesem Tal, noch treffen so viel hundertmal: Gott mag es schenken, Gott mag es lenken, er hat die Gnad».
Als ich draussen warte, bis das Singen vorüber ist, wird ein Bett mit einem zugedeckten Körper an mir vorüber und in den Lift gerollt. Ein Patient versucht, sich in den Lift zu drängen, aber ein Pfleger hält ihn zurück. Ich glaube, im Gesicht des Patienten den Anflug von Triumph zu sehen, und mir fällt die Schwester ein, die einem Kranken vom Tod eines Zimmernachbarn erzählte, worauf dieser meinte: «Na, wenn nur ich es nicht bin.»
Wie oft habe ich das gedacht hier, «wenn nur ich es nicht bin». Und mich geschämt dafür. Ich war ins Heidehaus gekommen, um über das Atmen nachzudenken, über die Kurzatmigkeit oder Atemlosigkeit unserer Gesellschaft. Aber schon als ich das Gelände betrat, merkte ich, dass es schwierig sein würde, von hier über den Atem unserer Zeit zu berichten. Es ist ruhig in der Klinik, auch wenn die Autobahn jenseits der hohen Schallschutzmauer nie ganz verstummt. Die Ruhe scheint aus dem grossen Wald zu kommen, in dem die bis neunzig Jahre alten Gebäude der Klinik liegen. Sie scheint von den langen Wegen zu kommen, die in den Wald hineinführen und in der Entfernung im feuchten Dunst verschwinden. Die Wege sind gerade angelegt, als führten sie auf ein Ziel hin, aber alle münden am Rand des Geländes in andere Wege, die in andere Richtungen und endlich zurück zur Klinik führen. Nur Schlupflöcher gibt es an einigen Stellen im Zaun. Hier und da sieht man Spaziergänger, alleine oder zu zweit. Die Patienten gehen langsam, die Besucher schnell wenn sie kommen, langsamer wenn sie gehen. Dann weinen manche. Auf dem Teil des Fischteiches, der noch nicht zugefroren ist, schwimmen Enten. Die Minigolfanlage ist mit Laub bedeckt.
In der Krankengymnastik wird ein knappes Dutzend Patientinnen und Patienten auf die Operation vorbereitet. Übungen, die sie nach der Operation in der Intensivstation selber machen sollen: Ausatmen auf «sch», Husten, abgehacktes Einatmen, sachte Bewegungen mit den Armen, den Füssen. «Jeder hält seinen Wundbereich fest», sagt Oliver Tepper, der die Gruppe leitet, und alle pressen ihre Hand auf den Brustkorb, als sei dort schon eine Wunde. Eine Frau hält die Augen geschlossen. Langsam verschwindet der Ausdruck von Angst auf ihrem Gesicht. «Stellen sie sich vor, sie wollen eine Kerzenflamme gleichmässig bewegen, nicht auspusten.»
«Früher war hier die Endstation des Buses», erzählt eine der Krankengymnastinnen, die in der Nähe aufgewachsen ist, «das waren geflügelte Worte: Endstation Heidehaus.» Wir trinken Kaffee. Immer bekommt man hier Kaffee. Die Stimmung ist familiär, das Personal herzlich, die Ärzte nehmen sich Zeit. Mit den Patienten kommt man leicht ins Gespräch. Sie freuen sich über die Gelegenheit zu reden. Schlimmer als die Lungenspiegelungen, die Untersuchungen und Therapien sind die langen Stunden des Wartens, des Nachdenkens über die Krankheit, über das Schicksal, das einem widerfährt, die Stunden der Angst vor den Schmerzen, die vor einem liegen, vor dem Tod. Schnell kommen wir auf das Wesentliche zu sprechen, auf die Gesundheit, die Krankheit. Und schnell merke ich, dass die Schicksale der Patienten für nichts anderes stehen können als für sich selbst, dass es frivol wäre, anhand einer tödlichen Krankheit metaphorisch die Gegenwart, die Gesellschaft zu beleuchten. Selbst über die Schädlichkeit des Rauchens mag ich nichts sagen, und ich rauche auch nicht weniger nach dem Besuch bei einem Lungenkrebskranken. Es ist, als trenne sich in diesen schweren Fällen die Krankheit vom Kranken, die Diagnose vom Schicksal, als könne man über beides reden aber nicht über beides zugleich.
Die Atemlosigkeit der Kranken hier hat nichts zu tun mit der Kurzatmigkeit unserer Gesellschaft. Es ist nichts Gehetztes in den Stationen des Heidehauses. Auch wenn Notfälle hier an der Tagesordnung sind, auch wenn die Schwester, mit der man gerade spricht, plötzlich davonrennt, weil der Alarm losgegangen ist, weil ein Patient in Krämpfen liegt und mit einer Spritze beruhigt werden muss. Es ist keine Atemlosigkeit hier, auch wenn manche Patienten schwer atmen, nur leise sprechen und Sauerstoffflaschen neben ihren Betten stehen haben. Es ist alles langsam hier. Vor jedem Notfall gibt es die langen Tage, das Warten auf die Heilung, die so still und unscheinbar vor sich geht wie vorher die Erkrankung. Einatmen, ausatmen. Tausendmal, zehntausendmal, hunderttausendmal. Das Morgenessen wird gebracht, das Mittagessen wird gebracht, das Abendessen wird gebracht. Das Atmen hört nie auf, geht immer weiter, muss immer weitergehen. Irgendwann steht man zum ersten mal wieder auf, darf zum ersten mal wieder hinaus, ins Freie, dann nach Hause. Wenn alles gut geht.
«Danke, dass ich wieder gesund werde», hat jemand im «Raum der Stille» in das Buch geschrieben, das dort aufliegt «für Klagen und Bitten und Dank.» Zwanzig Seiten wurden im letzen Jahr beschrieben. Viel Raum ist zwischen den Notizen, Weissraum. «Lieber guter Gott, bitte hilf mir, gesund zu werden», hat jemand geschrieben. «Warum muss der Weg zu Dir so qualvoll sein, lieber Gott?», ein anderer. «Ach, Gott, er wollte so gern noch auf seinen Balkon!» und «Ich wünsche mir nichts sehnlicher als das ich nach Hause kann. Ich ertrage es nicht länger … Die Pein, der Schmerz wie ein frischge…» Mitten im Wort bricht der Satz ab. Hört plötzlich auf, zu früh und unerwartet, wie manches Leben hier.
«Viele ältere Patienten sagen, es ist jetzt gut. Bei den Jungen ist der Tod keine Erlösung», sagt Renate Otte, eine der beiden Seelsorgerinnen, die im Heidehaus arbeiten, «dass diese Krankheit schlimm und schrecklich ist, da ist nichts daran zu deuteln.» Sie können nicht immer trösten, aber manchmal gelinge es, mitzutragen. In der Sterbebegleitung erzählten die Patienten oft aus ihrem Leben, als wollten sie bilanzieren, etwas festhalten. «Es ist, als wollten sie schauen, was denn dieses Leben war, das durch die Krankheit in Frage gestellt wird. Was gut daran war und was weniger gut.» Eine der Gefahren der Sterbebegleitung sei es, zu viel zu reden, seine eigene Angst wegzureden. Das Schweigen nicht auszuhalten. Sie habe, sagt Renate Otte, im Heidehaus gelernt, Menschen zu segnen, ihnen einfach die Hand auf den Kopf zu legen.
Rund um das Heidehaus ist Industrie. VW, Varta, Continental haben hier Fabriken. Es ist keine schöne Umgebung, aber sie hat einen seltsamen Reiz, weil keine Spannung in ihr ist, keine Absicht. Nichts hier hat miteinander zu tun, nichts ist notwendig. An den Gebäuden von Möbel Hesse und der Möbel Rampe sind die Weihnachtsdekorationen eingeschaltet worden. Auf den Zubringern zur Autobahn staut sich der Verkehr. Es ist ein Niemandsland, ein Ort ohne Zeit, wo Distanzen nicht in Schritten, sondern in Autobahnausfahrten gemessen werden. Alles spricht dagegen, dass ich jemals wieder hierherkomme. Es gibt keinen Grund, vielleicht gab es nie einen überhaupt hierherzukommen. Die Frage, was mich von Zürich ausgerechnet nach Hannover brachte, lässt sich nur unbefriedigend beantworten. Der Zufall hat mich hierher verschlagen, — Schicksal wäre ein zu grosses Wort — der Zufall, der auch die Patienten hierhergebracht hat. Manche haben ihre Diagnose erst vor wenigen Wochen oder Monaten erfahren, haben vorher noch nie vom Heidehaus gehört, wo sich jetzt entscheidet, ob sie leben werden und wie lange. Manche wirken noch Monate nach der Diagnose erstaunt darüber, dass sie hier sind.
«Eigentlich wollte ich zur Sportschau zu Hause sein», sagt Günter G.. Aber die Chemotherapie dauert heute länger als sonst, sieben Stunden statt fünf. Seit April dieses Jahres kommt er jeden Monat für acht Tage ins Heidehaus zur Therapie. Die restliche Zeit verbringt der 58jährige zu Hause, geht mit dem Hund spazieren, kocht, putzt, macht die Wäsche. «Man grübelt auch manchmal», sagt er, «Aber am besten ist es, man denkt nicht dran. Man hat es nun mal und muss damit fertigwerden.» «Man», sagt Günter G. wenn er von sich spricht, als sei nicht er es, der hier liegt. «Es» oder «das Ding» nennt er seinen Tumor. «Wenn es stimmt, was der Arzt sagt, ist es zu gut neunzig Prozent weggegangen. Das gibt ein bisschen Hoffnung. Heisst aber nicht, dass es ganz verschwindet. Man weiss das nie.»
Es wird spät hell und früh wieder dunkel jetzt. Wenn ich am Morgen durch den Wald zur Klinik gehe, sind die Pfützen auf dem Weg gefroren. Es schneit ganz leicht. Es soll Rehe geben im Wald. In einem Abfallkorb neben der Cafeteria liegen zwei leere Schnapsflaschen, eine Zigarettenschachtel, ein Busbillett und Papiere von Hustenbonbons. Ich besuche die Tuberkulose Station, Johann Leirich, der an einer multiresistenten Tuberkulose erkrankt ist, einer kaum behandelbaren Form der Krankheit. Ich muss einen Mundschutz und eine Schürze anziehen. «Herr Leirich ist vorsichtig», sagt die Schwester. Aber ich solle trotzdem darauf achten, ihm nicht zu nahe zu kommen und nicht angehustet zu werden.
Vor vier Jahren kam der deutschstämmige Johann, der damals noch Iwan hiess, aus Kasachstan nach Deutschland. Schon damals hatte er eine Tuberkulose. Mit der multiresistenten Form hat er sich von einem anderen Patienten in einem deutschen Krankenhaus angesteckt. Dreissig Monate, fast drei Viertel der Zeit, die er hier war, hat Johann in Krankenhäusern verbracht. Seit einem halben Jahr ist er im Heidehaus.
«Ich war zur Kontrolle und alles war gut. Da dachte ich, jetzt bin ich endlich geheilt. Und einen Tag nach der Untersuchung wurde mir schlecht. Und es wurde immer schlimmer und schlimmer. Einen Monat bevor ich heiraten wollte, musste ich wieder in die Klinik.» Vor zweieinhalb Monaten gebar ihm seine Freundin eine Tochter, Vanessa. Das Kind hat Johann noch nie gesehen. An der Wand hängt ein kleines Foto des Mädchens. Johann hat mit Farbstiften einen Rahmen darumherum gemalt. Blumen.
Das Zimmer: ein Bett, ein Tisch, zwei Stühle, ein Waschbecken hinter einem gelb geblümten Plastikvorhang, viele Pakete Papiertaschentücher, ein Weihnachtskalender mit Schokolade, ein Zeichenblock, ein Papierkorb. Weil er so vorsichtig ist — ein «braver Patient», wie er es nennt — hat Johann die Erlaubnis bekommen, im Wald spazieren zu gehen. Dort darf er seinen Mundschutz abnehmen. Aber er geht nicht oft, ein- oder zweimal in der Woche. «Manchmal denke ich, jetzt gehe ich, dann warte ich noch ein bisschen, und dann ist es schon wieder abend. Wenn ich draussen bin, merke ich noch mehr, wie alleine ich bin.» Seine Brüder die in Hannover wohnen, besuchen ihn nicht mehr so oft wie früher. «Ich bin ja kein kleines Kind mehr», sagt er, «und vielleicht haben sie einfach genug davon, mich seit vier Jahren im Krankenhaus besuchen zu müssen.»
Johann wendet sich zur Seite und hustet. Es klingt leise und sehr schwach. «Man sieht nicht, dass ich krank bin. Aber drinnen ist alles faul und voll mit Bazillen. Ich werde diesen Monat achtundzwanzig. Und bin schon so krank.» Die ewige Angst, andere anzustecken, die Angst vor der Krankheit. Es gelingt ihm nicht, sein Schluchzen mit Lachen zu verdecken.
«Ich habe meine Wohnung gekündigt. Jetzt ist das hier meine Wohnung. Manche meinen, ich hätte aufgegeben. Aber ich habe nicht aufgegeben. Wenn ich hier herauskomme, kann ich überall wohnen, in einem Heim, einer Scheune, überall. Wenn ich nur gesund werde. Die Frage ist, wie lange mein Körper den Druck noch aushält. Von den Medikamenten. Und den psychischen Druck. Die Medikamente, die ich nehme, haben noch eine geringe Wirkung. Aber die Bazillen vermehren sich schneller, als das Medikament wirkt.»
Ich verlasse das Zimmer, werfe Schürze und Mundschutz in die bereitstehende Tonne, desinfisziere meine Hände. «Man braucht eine dicke Haut», hat ein Arzt gesagt, «man will unbedingt helfen, aber man kann nicht mit jedem Patienten weinen. Sonst dreht man durch.» Und einer seiner Kollegen hat gesagt: «Die Laien meinen oft, dass die Ärzte abgebrüht werden im Lauf der Jahre. Aber das ist nicht so.» Ein Pfleger sagt: «Es ist schwierig, loszulassen.» Und eine Schwester: «Manchmal möchte ich am liebsten davonlaufen.»
Am Abend gehe ich in die Stadt, gerate auf den Weihnachtsmarkt. Schmalzgebäck, Glühwein, Würste. Das Gedränge ist unerträglich. Ich fliehe in eine Kirche, wo eben ein Gospelkonzert beginnt. «Heaven is a wonderfull place», singt der Chor. «Ich übersetze das immer ein bisschen flapsig», sagt der Chorleiter, «der Himmel ist ein herrliches Stückchen Erde und ich freue mich darauf, weil ich meinem Schöpfer da von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehe. I want to see my saviours face.» Ich gehe. Wütend.
Am nächsten Tag schaue ich bei zwei Operationen zu. Wer noch operiert werden kann, hat gute Chancen, geheilt zu werden. «Leider treten die Symptome beim Bronchialkarzinom spät auf», sagt Dr. Dusan Dragojevic, Chefarzt der Chirurgie, «Wenn der Patient Blut spuckt, ist es in den meisten Fällen schon zu spät. Wenn bei Risikogruppen regelmässig Kontrollen gemacht werden ist die Früherkennung gut. Aber wir leben in einer Zeit, in der viel gespart wird. Für den einzelnen wäre der Nutzen gross, aber für die Gesellschaft zahlen sich Reihenuntersuchungen nicht aus. Leider müssen wir so leben.» Doktor Dragojevic lacht hilflos, entschuldigend.
Die Bilder von der Operation verfolgen mich noch nach Tagen. Der geöffnete Brustkorb, das pulsierende Herz. Nach der Operation werden die Tücher entfernt, mit denen der Patient zugedeckt war. Nackt liegt er vor uns, leicht zur Seite gedreht, mit einer riesigen, klaffenden Wunde, die quer über seine Brust verläuft, als sei er in zwei Stücke geschnitten worden. Eines seiner Beine ist amputiert, auf dem Bauch sind drei lange Narben von früheren Operationen. Ein geschundener Körper. «Es ist sehr selten, dass ein Patient eine Operation nicht machen lässt», hat Dr. Werner Mall, Chefarzt der Pneumologie, gesagt, «ich mag diese Floskeln nicht: die Ärzte haben ihn aufgegeben oder die Ärzte können nichts mehr für ihn tun. Man kann als Arzt immer etwas tun, und aufgeben muss man auch nicht.»
Beim letzten Stich, mit dem der Brustkorb zugenäht wird, wird der Patient aufgeweckt. «Tut ihnen etwas weh?» fragt einer der Ärzte, während der Mann aus dem Operationssaal geschoben wird. Draussen liegt schon der nächste und schielt herüber mit einem Blick, den ich nicht beschreiben kann.
«Rentner aus Hannover wird Lotto-Millionär» stand heute in der Zeitung. Ein anderer Rentner starb gestern gegen sechzehn Uhr auf Station 3 an Lungenkrebs. Es ist dunkel, als ich ins Hotel kommen. Ich gehe noch etwas hinaus, brauche Bewegung. Mitten zwischen den Industriebauten stehen Einfamilienhäuser. Wie in einem anderen Massstab gebaut scheinen sie in dieser Umgebung. An einem der Häuser hängt ein Mann Weihnachtsdekorationen auf. Eine Frau und ein kleines Kind stehen daneben und schauen zu. Die Frau raucht. Im Nachbarhaus ist ein Fenster erleuchtet. Ein Mann in Kochschürze deckt einen Tisch. Vielleicht erwartet er Besuch, vielleicht kocht er für seine Familie. Wie Günter G., wenn er am Freitag wieder nach Hause darf. Aus der Ferne höre ich die Autobahn. Dann gehe ich zurück ins Hotel. Es ist kälter geworden.
In den fünf Tagen, die ich hier war müssten nach Statistik zwei oder drei Leute gestorben sein. Aber ich frage den Chefarzt bei unserem Schlussgespräch nicht nach Todesfällen. Der Tod ist Privatsache. Am letzten Tag verabschiede ich mich, wünsche gute Besserung, schüttle Hände, versprechen, Belege zu schicken. Die Stimmung hier sei wie auf einem Friedof, habe kürzlich eine Besucherin gemeint, sagt die Seelsorgerin, ob ich auch den Eindruck habe. Ich zögere vielleicht einen Moment zu lange.
Als ich aus dem Haus trete, hat es schon wieder zu dämmern begonnen. In vielen Fenstern ist Licht. Die elektrische Weihnachtsbeleuchtung, die den feuchten Park am Nachmittag nur noch trostloser gemacht hat, leuchtet jetzt warm. Ein Mann holt ein kleines Mädchen im Kinderhort ab, trägt es auf den Schultern zum Auto. Ein Patient tritt auf den Balkon, schüttet Futter in ein Vogelhäuschen. Zwei Besucherinnen verlassen die Station 3. Sie drehen sich um, winken. Als sie sich zum zweitenmal umdrehen, ist der Patient schon im Haus verschwunden. Es ist kalt, und er trägt nur einen Trainingsanzug.
Alles bekommt hier eine seltsame Schwere, nichts ist selbstverständlich. Bei jedem Husten denkt man an eine tödliche Krankheit, bei jedem Kind das man sieht an die Eltern, die sterben könnten, bei jedem Besuch, ob es der letzte war. Nein, die Klinik wirkt nicht wie ein Friedhof. Die Stimmung ist nicht traurig. Die Trauer, die Angst sind in den Köpfen, man kann sie auf den Gesichtern der Patientinnen und Patienten sehen, die an den Fernstern stehen, im Wald spazieren. Mitgefühl ist kaum möglich. Es wäre anmassend zu behaupten, das mitfühlen zu können, was die Kranken empfinden müssen. Es ist, als befänden sie sich in einem anderen Raum, in den man hineinsehen, aber den man nicht betreten kann. Sie leben in einer anderen Welt, die zugleich zeitlos ist, und in der die Zeit doch eine so grosse Rolle spielt, die Zeit die vergeht, die Zeit die noch bleibt.
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